Widerstand klein geredet

Ein Kommentar zur italienisch-deutschen Historikerkommission

Am 18. November 2008 trafen sich Kanzlerin Angela Merkel und ­Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi in Triest. Die ­beiden Außenminister Frank-Walter ­Steinmeier und Franco Frattini nahmen ebenfalls an dem Treffen teil. Hauptthema des ­Gipfels war eine beabsichtigte ­Klage Deutschlands gegen Italien beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, weil die italienische Justiz die Immunität der BRD verletzt habe.
Die wichtigste Entscheidung des Gipfels in Triest war die ­Bildung ­einer mit italienischen und ­deutschen Forschern ­besetzten Historiker­kommission mit dem ­Auftrag, eine ­gemeinsame ­Aufarbeitung der deutsch-­italienischen Kriegs­vergangenheit zu leisten. Im März 2­009 nahm sie die Arbeit auf, und bald machte in den Medien das Wort von der Alibifunktion, die die ­Historiker zu erfüllen hätten, die Runde.

Klage gegen die Opfer

Seit Ende der 1990er Jahre klagten Opfer nazistischen Terrors und ehemalige Zwangsarbeiter vor italienischen Gerichten gegen die Bundesrepublik auf Zahlung von Entschädigung. Letztinstanzliche Gerichte gaben den Klägern recht und verurteilten Deutschland zur Zahlung. Berlin erkannte die Urteile nicht an und berief sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität. Danach dürfe ein fremder Staat von Privatpersonen bei nationalen Gerichten nicht verklagt werden. Im März 2004 entschied der italienische Kassationsgerichtshof, dass jedoch dieser Grundsatz bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht gelte. Eine ­Klagewelle drohte. Berlin schlug mit der Klage beim IGH zurück.

Die Badische Zeitung (19.11.2008) zitierte Berlusconis Einschätzung des Treffens: »Wir sind in keinem Punkt uneinig, haben eine Wellenlänge«. Diese Übereinstimmung mit der deutschen Position lag sicher zum einen in Berlusconis ambivalentem Verhältnis zur Justiz seines Landes begründet. Zum anderen war für die Regierung des »Cavaliere« auch wichtig, so Frattini, dass Italien glaubte, so auch mögliche Entschädigungsansprüche von Opfern seiner Politik im Zweiten Weltkrieg abwehren zu können. Schließlich war Italien bis 1943 selbst Besatzungsmacht und hatte blutige Kolonialkriege in Afrika geführt. »Interessengruppen von Opferangehörigen«, berichtete N-TV (28.12.2008), »sehen daher in dem IGH-Verfahren eine ›Farce‹, bei der Kläger und Beklagter in Wirklichkeit im selben Boot sitzen«.

Am 23. Dezember 2008, jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit, reichte Berlin die Klage ein. Das Gericht folgte dem Antrag. Im Urteil vom 3. Februar 2012 heißt es, die italienische Regierung habe künftig dafür zu sorgen, »dass die Entscheidungen ihrer Gerichte (…), die Deutschlands völkerrechtliche Immunität ver­letzen, keine Wirkung mehr haben«. Die ­zukunftsweisende Entwicklung im Völkerrecht, dass die Staaten­immunität nicht bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuwenden sei, wurde abrupt ­unterbrochen. Alle Entscheidungen auf Entschädigung wegen nazistischen Besatzungsterrors sind hinfällig; neue Klagen dürfen nicht mehr entgegengenommen werden.

Gesten statt Entschädigung

Geldzahlungen waren für die Naziopfer nicht das einzige, meist nicht einmal das wichtigste Motiv. In den Verfahren wurde ihr durchlittenes Martyrium häufig zum ersten Mal öffentlich. Die Prozesse waren eine wichtige Form der Trauerarbeit für die oft noch nach Jahrzehnten stark traumatisierten Menschen. Hier wurden sie angehört, hier erfuhren sie juristische Gerechtigkeit. »Traumata wie diese«, schrieb Roberto Oligeri, dessen fünf Geschwister von der Waffen-SS im August 1944 umgebracht worden waren, »benötigen zur Heilung Gerechtigkeit«. Außerdem wies er darauf hin, dass die Klagen auch dazu geeignet sind, den Herrschenden und deren mehr oder weniger freiwilligen Mitläufern vor Augen zu führen, was Eroberungskriege letztlich kosten.

Die Folgen der harten Gangart ­Berlins für das deutsche Ansehen in Italien sollten durch Gesten abgefedert werden. Die mit Berlusconi abgestimmte Strategie – Gesten statt Entschädigung für die meist armen Opfer – ­hatte Außen­minister Frattini in der Süddeutschen Zeitung dargelegt. Auf die Frage, was man für die Opfer tun könne, antwortete er, eine Experten­gruppe solle »prüfen, wie wir den früheren Zwangsarbeitern ein Zeichen setzen können. Diese Menschen haben gelitten. Wenn wir ihnen nun 3.000 Euro geben, ist es nicht das, was sie brauchen (…). Ich denke, eine symbolische Geste wäre wichtig, etwa eine von Deutschland und Italien gemeinsam errichtete Gedenkstätte oder ein Museum der Erinnerung«. Das lehnen die Opfer aber ab. Roberto Oligeri: »Mit der Spende eines Gedenksteins ist die deutsche Schuld nicht getilgt und auch nicht mit gefühlvollen Worten und dem Vergießen von Krokodilstränen seitens deutscher Politiker, die schon in der Vergangenheit folgenlos blieben.«

Steinmeier und Frattini besuchten bei ihrem Treffen 2008 das größte deutsche KZ auf italienischem Boden, die Reismühle in San Sabba bei Triest. Steinmeier machte dort deutlich, dass sich Deutschland bei seiner »Gestenoffensive« auf die Gruppe der italienischen Militärinternierten konzentrieren wollte. In seiner Rede erinnerte er insbesondere an die „600.000 Italienischen Militärinternierten“ (IMI) in Deutschland die zahlenmäßig größte Opfergruppe, die Entschädigungsforderungen erhoben hatte.

Straße der Partisanen in Parma

Straße der Partisanen in Parma

Nach dem Ausscheiden Italiens aus dem faschistischen Achsenbündnis am 8. September 1943 deportierte die Wehrmacht Hunderttausende italienische Soldaten zur Zwangsarbeit in den deutschen Machtbereich. Ihnen wurde der Kriegsgefangenenstatus und damit der Schutz der Genfer Konvention aberkannt. Ihre Lebensverhältnisse waren in der Mehrzahl durchaus mit denen der sowjetischen Kriegsgefangenen vergleichbar, auch was die Folgeerscheinungen wie Krankheits- und Todesrate betrifft. Nach Errichten der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) zur Entschädigung von Zwangsarbeitern hatten etwa 90.000 ehemalige IMIs Zahlungen aus dem Stiftungsfonds beantragt. Deutsche Gerichte haben sie mit geradezu abenteuerlichen Rechtskon­struktionen in Verbindung mit ­ahistorischer Ge­schichts­auffassung vom Leistungs­bezug ausgeschlossen.

Überflüssige Kommission

Die wichtigste Entscheidung des ­Gipfels in Triest im Rahmen der Doppel­strategie gegen die Nazi­opfer war die Bildung einer mit italienischen und deutschen Forschern besetzten Historikerkommission mit dem Auftrag, eine gemeinsame Aufarbeitung der deutsch-italienischen Kriegsvergangenheit zu leisten. Im März 2009 nahm sie die Arbeit auf und bald machte in den Medien das Wort vom Feigenblatt und von der Alibifunktion, die die Historiker zu erfüllen hätten, die Runde.

Die Stellungnahmen der Opfervertreter sind eindeutiger. Mit der Kommission solle offensichtlich die Geschichtsforschung als Legitimationswissenschaft für die Politik der Berliner Regierung missbraucht werden. Kontrovers werden der Auftrag der Kommission und die Berechtigung des hoch dotierten Gremiums diskutiert.

Am 19. Dezember 2012 übergab die Kommission nach monatelangen Verzögerungen publikumswirksam in Rom ihren Abschlussbericht. Die Tatsache, dass darin die Entschädigungsfrage nicht erwähnt wurde, obwohl gerade das ein Beleg wissenschaftlicher Redlichkeit und Unabhängigkeit gewesen wäre, löste berechtigterweise Protest aus.
Im Bericht wird der Eindruck vermittelt, als habe das Leid der IMIs und der italienischen Zivilbevölkerung im Mittelpunkt der Arbeit der Kommission gestanden. Dies war aber nur die Verschleierung einer wesentlich weiter­reichenden geschichtspolitischen Operation.
Die Kommission schlägt vor, mit »erfahrungsgeschichtlichen« Mitteln »die deutsch-italienische Geschichte im Zweiten Weltkrieg (…) neu zu bewerten« (Seite 44 des Berichts). Vor allem auf der Grundlage von auto­biographischem Material aller Beteiligten – Opfern wie Tätern – will sie »zur Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Deutschen und Italienern beitragen«. Ein großes Forschungsprojekt solle eine für Deutsche und Italiener verbindliche Sicht auf die deutsch-italienische Geschichte im Zweiten Weltkrieg entstehen ­lassen (S. 46). Bislang, so der Kommis­sionsbericht, stünden einem solchen zwischen Tätern und Opfern einvernehmlichen Geschichtsbild »nationale Mythen« entgegen. Sie erzeugten in beiden Ländern die Versöhnung verhindernde Feindbilder (S. 16). Zwar wird auch die in der BRD grassierende Legende von der in Italien ritterlich kämpfenden Wehrmacht genannt (S. 13). Aber durch Forschungen ­kritischer Historiker und Aktionen anti­faschistischer Kräfte war seit Ende der 1980er Jahre diese Legende selbst in konservativen Medien der BRD nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Gegen die Resistenza

Der Hauptstoß der Kommissionsarbeit ist aber eindeutig gegen die Resistenza gerichtet, gegen alle jene Italiener, die dem deutschen Faschismus und seinen italienischen Helfern zugesetzt und die Ideale dieses nationalen Befreiungskampfes an die nachfolgenden Generationen weitergegeben haben. Und so wird von dem in Italien bis heute »vorherrschenden Re­sistenza-Narrativ« (S. 128) geschrieben.

Die Deutsche Welle (19.11.2012) entnahm dem Bericht der Kommission, dass es vor allem um die »in Italien weit verbreitet(en) Mythen« um die Resistenza gehe. Die Erinnerung an den Widerstandskampf wird in dem Bericht als das größte Hindernis für die geforderte neue Sicht auf die deutsche Besatzungspolitik in Italien genannt. Sie behindere die »Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Deutschen und Italienern« (S. 3).
Im Bericht der Kommission heißt es: »Nach dem Krieg haben die deutschen Gewalttaten (…) das Kollektivgedächtnis der Mehrheit der Italiener geprägt (…). Andersartige, auch positive Erfahrungen mit Vertretern der Besatzungsmacht sind hingegen in Vergessenheit geraten« (S. 120). Das wolle die Kommission vor allem durch einen differenzierten Blick auf die Widerstandsbewegung sowie durch wissenschaftliche Widerlegung der »Resistenza-Erzählung« (S. 20) und der »vorherrschenden antifaschistischen Nachkriegslegende« (S. 82) verändern.

Wandbemalung in dem Dorf Vestignano, Marken

Damit kommt sie den seit vielen Jahren von Postfaschisten und konservativen Kräften in Italien geführten Kampagnen gegen die Resistenza gefährlich nahe. Seit den 1970er Jahren kämpfen diese gegen den Widerstand nicht nur aus geschichtspolitischen, sondern aus machtpolitischen Gründen. Chefideologe des Kampfes gegen die Resistenza war der Mussolini-Biograph Renzo de Felice, der »gegen die Schwarzweißmalerei der Nachkriegszeit« zu Felde zog (Focus, 6.11.1995).

Nach Meinung der ZEIT (5.9.1975) waren die Thesen de Felices ein »Dolchstoß in den Rücken des Antifaschismus«. Berlusconi war der Hauptprofiteur dieser Diskussion. Bemerkenswert ist, dass sich im Kampf gegen die Resistenza die Historikerkommission der gleichen Argumente bedient, wie die italienische Rechte. Im Bericht heißt es beispielsweise: »Obwohl die italienische Widerstandsbewegung in militärischer Hinsicht nicht die Oberhand gewinnen konnte«, habe sie für die Entwicklung Italiens und der politischen Kultur des Landes nach 1945 »in moralischer und politischer Hinsicht fundamentale historische Bedeutung« erlangt (S. 15). Ebenso argumentiert de Felice und wendet sich gegen die These, der »Widerstand sei entscheidend für die Befreiung und für den demokratischen Aufbau des Landes gewesen«.

Gegen das politisch motivierte Kleinreden der militärischen Erfolge der Resistenza hat sich der Militärhistoriker Gerhard Schreiber gewandt.: »Im übrigen zählte Italiens ›Resistenza‹, deren militärische Effizienz oft leichtfertig angezweifelt wird, aufgrund ihres erfolgreichen Kampfes gegen die deutschen Nachschubwege zu den – operativ gesehen – wirkungsvollsten europäischen Widerstandsbewegun­gen (…). In Einzelfällen ­bereiteten ihre Kämpfer Hitlers ­Divisionen mehr Schwierigkeiten als die Alliierten, mit denen sie immer wieder Schulter an Schulter fochten.« („Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, 2007).

Kein Befreiungskampf?

Eine zweite Argumentationslinie besteht in der Aufspaltung des Widerstandes. Im Bericht der Kommission heißt es, die Kämpfe der Resistenza seien nicht so sehr ein nationaler Befreiungskampf gewesen, sondern hätten »auch bürgerkriegsähnliche Formen angenommen« (S. 83). An anderer Stelle wird behauptet, dass in der Geschichtsdiskussion in Italien »fast ausschließlich die Aspekte des nationalen Befreiungskampfes und weniger die des Bürgerkrieges oder des Klassenkampfes hervortraten« (S. 113). Im Einklang mit den Thesen der Historikerkommission hatte de Felice bereits im Focus wahrheitswidrig behauptet, die Resistenza habe »weithin ein(en) Bürgerkrieg« geführt.

Die heutigen Resistenza-Organisationen entwickeln sich – gemäß ihrer Forderung im Krieg nach Schaffung eines freien, demokratischen und sozial gerechten Italien – zunehmend zu Zentren des Kampfes gegen die katastrophalen sozialen Auswirkungen der ruinösen Spardiktate der EU. Da kommt eine wissenschaftliche Kommission, die gegen die »Monumentalisierung der Resistenza« (S. 16) vorgehen will, gerade recht. Der neue Außenminister Steinmeier kann mit der Arbeit des in seiner ersten Amtszeit maßgeblich von ihm initiierten Gremiums durchaus zufrieden sein.

Dr. Martin Seckendorf, Historiker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für ­Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.