Lia Finzi über Faschismus und deutsche Besatzung in Venedig

„Ich war ein ganz normales Mädchen, nicht mehr und nicht weniger“

Lia Finzi (Jg. 1928) ist stellvertretende Präsidentin des Instituts für Widerstand und Zeitgeschichte in Venedig (IVESER).
Sie hat die Shoa im Exil überlebt.
Als mit der deutschen Besetzung Venedigs im September 1943 die Deportation jüdischer ­­Ital­ienerInnen in die Vernichtungslager begann, musste auch sie ihre Geburtsstadt verlassen. Sie flüchtete mit ihrem Vater und ihrer Schwester in die Schweiz, was etwa 5.500 ­italienischen Juden gelang.„Bevor 1938 in Italien die Rassengesetze eingeführt wurden, waren wir Juden wie alle Italiener; mancher war sogar Faschist, um Arbeit zu bekommen oder auch aus ideologischen Motiven. Obwohl natürlich die meisten aus offensichtlichen Gründen antifaschistisch eingestellt waren. Bei mir zu Hause waren wir jedenfalls alle Antifaschisten. Aus der Zeitung und dem Radio haben wir erfahren, was sich in Deutschland seit 1933 abspielte.
Die Italiener haben ihre rassistischen Gesetze schon 1936 in Italienisch-Ostafrika („Africa Orientale Italiana“), dem italienischen Kolonialgebiet, ausprobiert. In Afrika durften keine so genannten Mischehen zwischen Besatzern und Einheimischen geschlossen werden. Einheimische Kinder durften nicht die gleichen Schulen wie italienische besuchen. Das waren rassistische Bestimmungen, wie sie dann ähnlich gegen die jüdische Bevölkerung in Italien eingeführt wurden.
So genannte Wissenschaftler faselten etwas von einer arischen Rasse, einer italischen Rasse, zu der Juden nicht gehörten. Öffentlich gemacht wurden diese Aussagen in dem ‚manifesto della razza‘, dem ‚Rassenmanifest‘. Damit wurde die Ideologie in die ­Bevölkerung hinein getragen, in ­Behörden und in die Schulen.
Die Ausgrenzung erfolgte stufen­weise. Zunächst wurde über eine Volkszählung festgestellt, wer überhaupt jüdisch sei. Im nächsten Schritt wurden nicht italienische Juden in Internierungslager eingewiesen. Dann wurden alle italienischen Juden aus öffentlichen Ämtern entlassen und aus den freien Berufen entfernt, wie Anwälte, Ingenieure und Ärzte. Alle Lehrkräfte wurden aus den Schulen und Universitäten entlassen, ebenso mussten alle jüdischen Schulkinder und Studierenden ihre Lehrstätten verlassen.
Das waren schwerwiegende Einschnitte im Leben der Einzelnen, die dadurch schlagartig arbeitslos wurden. Auch mein Vater verlor seine Anstellung als Buchhalter und versuchte, uns als Steuerberater für Privatpersonen über Wasser zu halten.

Auch so genannte Mischehen wurden verboten. Und es gab Vorkehrungen, die völlig lächerlich waren, hätte es etwas zu lachen gegeben. So waren wir vollständig aus den Telefonbüchern getilgt worden. Es gab dort einfach keine jüdischen Menschen mehr! Uns wurde verboten, ein Radio zu besitzen und wir durften nicht mehr an den Strand gehen. Nicht mehr am Lido baden gehen zu dürfen war für uns Kinder … es war einfach unglaublich!

1938 war ich zehn Jahre alt und sollte in die fünfte Klasse kommen. Ich war ein ganz normales Mädchen, nicht mehr und nicht weniger. Ich war nur dem Namen nach jüdisch, weil unsere Familie sehr laizistisch war. Ich wusste wenig von Glauben und jüdischer Kultur. Aber da ich offiziell als jüdisch galt, sagte meine Lehrerin 1938 zu mir: ‚Morgen kannst du nicht mehr zur Schule kommen‘. Nichts weiter erklärte sie mir und ich verstand überhaupt nicht, was da vor sich ging. Ich kam nach Hause. Auch meine fünf Jahre ältere Schwester, die auf die Oberschule ging, war bereits da. Sie war völlig niedergeschlagen, weil kein einziger Lehrer für sie Partei ergriffen hatte. Auch ihr hatte niemand begründet, weshalb sie die Schule verlassen sollte. Mein Vater hat versucht, es uns zu erklären, aber was sollte ein 10-jähriges Mädchen da schon verstehen, wenn sie nicht mehr mit ihren Schulfreundinnen zusammen sein durfte? Das hat mich total verwirrt und aus der Bahn geworfen. Hinzu kam, dass sich nun auch meine Freundinnen von mir abwandten, sie wollten nicht mehr mit mir zusammen sein und riefen mir Schimpfworte auf der Straße hinterher, was mich schwer getroffen und verletzt hat.
Durch die Entlassung aller jüdischen Lehrkräfte standen diese nun der ­jüdischen Gemeinde zur Verfügung. So wurde eine kleine private Schule gegründet. Die Volksschule befand sich im Ghetto, die Oberschule in der Nähe von San Marco. Ab der sechsten Klasse bin auch ich, zusammen mit meiner Schwester, dorthin gegangen. Wir waren 40 Schulkinder jeden Alters. Wir bildeten Klassen mit zwei, drei oder fünf Schülern. Toll war, dass wir die besten Lehrerinnen und Lehrer überhaupt hatten, darunter selbst Universitätsprofessoren, die man ja auch entlassen hatte. Erst hier lernte ich meine jüdischen Wurzeln kennen, ich habe fünf Jahre lang hebräisch studiert, wodurch mir auch die jüdische Kultur näher gekommen ist.

Als die Deutschen im Herbst 1943 auch unsere Stadt besetzten, versuchten viele jüdische Venezianer nach Süd­italien zu den Alliierten zu flüchten. Am 1. Dezember wurde proklamiert, dass alle jüdischen Italienerinnen und Italiener in Lager gebracht würden. Wir wussten nicht, was Vernichtungslager waren; wir dachten, es handle sich um Arbeitslager, so erzählte man es sich bei mir zu Hause.
Mein Vater war der Überzeugung, dass wir Venedig unverzüglich verlassen müssten. Wir hatten erfahren, dass die Nazis im Oktober die römischen Juden verschleppt hatten. Jemand hatte sie auf dem Weg nach Deutschland in einem verplombten Zug in Padua stehen sehen. Man hatte Hände gesehen, die aus den Viehwagen kleine Zettel mit Nachrichten warfen, aber wir verstanden noch immer nicht, wohin man sie bringen würde. Wir hofften, man würde sie zur Arbeit zwingen, was wir schlimm genug fanden.
Wir beschlossen, in die Schweiz zu gehen, mein Vater, meine Schwester und ich. Ich komme aus einer ‚Mischehe‘, meine Mutter, deren Vater Anarchist war, war Katholikin und damit un­gefährdet. Da sie chronisches Asthma hatte, war uns allen klar, dass sie die Flucht in die Schweiz nicht schaffen würde.
Viele versuchten zu flüchten, auch in die Schweiz wie wir. Nicht alle kamen dort an, denn es war nicht einfach, man musste Schleuser finden und sie vor allem auch bezahlen können. Viele aber gingen nicht fort, aus Unwissenheit, aus Geldmangel, aus familiären Gründen. Sie wollten ihre Alten, ihre kleinen Kinder, ihr armseliges Geschäft nicht zurücklassen. In der Nacht zum 5. Dezember haben sie die ersten 246 Juden weggebracht, darunter einen Säugling, 40 Tage alt. Alle wurden aus Venedig deportiert, die Alten aus dem Altenheim, der blinde Rabbiner, die Versehrten aus dem Krankenhaus und die Menschen aus den Psychiatrien auf den Inseln. Niemand kam mehr zurück.

Die Brücke ins Ghetto Vecchio in Venedig. Das Haus rechts nach der Brücke war die Grundschule von Lia Finzi

Die Brücke ins Ghetto Vecchio in Venedig.
Das Haus rechts nach der Brücke war die Grundschule von Lia Finzi

Zum Glück kann ich aber auch davon berichten, dass es Menschen gab, die geholfen haben und sich dabei selbst in Gefahr brachten, und dass Menschen überlebten, so wie ich. Auch mir hat jemand geholfen, sonst wäre ich jetzt nicht hier.
Doch es gab auch Spitzel und Kollaborateure, denn für jeden gefangenen Juden gab es 5.000 Lire, für jede jüdische Frau 3.000 Lire – weil die Frauen ja weniger wert sind, nicht wahr? Es gab viele Denunzianten, denn die Deutschen konnten sich in Venedig alleine nicht zurechtfinden und das Straßensystem entwirren, sie wurden also sicherlich von Italienern begleitet. Die meisten Venezianer aber waren gleichgültig, sie sahen zu und unternahmen nichts. Meine Nachbarn kannten unsere Geschichte und hatten mich aufwachsen sehen. Ich weiß nicht, was sie dachten, als ich plötzlich verschwunden war.
Freunde liehen uns Geld, um die Schleuser zu bezahlen, und unter großen Schwierigkeiten erreichten wir die Schweiz. Die Schweizer wollten uns sofort zurückschicken, aber das ist eine andere Geschichte. Wir kamen dort in ein Internierungslager und man verbot uns zu arbeiten.

Als ich wieder nach Venedig zurückkam, war ich 17 Jahre alt. Unsere Wohnung und unser gesamter Besitz waren weg, aber vor allem war meine Mutter nicht mehr da. Sie war zehn Tage nach unserer Abreise gestorben. Viele Freundinnen und Freunde waren weg, niemand kam mehr zurück.
Aber mit 17 hat man trotz alledem Lust zu leben, all die verlorenen Jahre wieder aufzuholen, man will nach vorne schauen. Mein Vater ist ­Direktor der Fabrik geworden, in der er früher gearbeitet hat. So hat er zumindest auf beruflicher Ebene eine gewisse Entschädigung bekommen. Unser Haus allerdings haben wir nicht mehr zurückbekommen. Drei Jahre lang haben wir bei Freunden gewohnt, die uns aufnahmen. Erst vor kurzem, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wurde ein Gesetz erlassen, mit dem wir für die drei Jahre entschädigt werde sollten, dafür, dass man uns von der Schule und den Arbeitsstellen verjagt hatte.“

(Interview v. 09.06.2006, Museo Ebraico di Venezia)

Lia Finzi machte in der Nachkriegszeit eine Ausbildung als Lehrerin und begann sich politisch zu engagieren. Sie wurde Mitglied des Landrats und arbeitete auf kommunaler ­Ebene als ­Referentin für Gesundheit und ­Soziales. In ihrer Amtszeit wurden Fürsorge- und Unterstützungsmaßnahmen eingeführt, wie es sie bis dato noch nicht gegen hatte, so Kindergärten, Beratungsstellen für Familien, ältere Menschen und Minderjährige.
Lia Finzi arbeitet noch immer als Zeitzeugin an Schulen und mit jungen Erwachsenen. Zuletzt erschien 2014 ein Film über ihre Arbeit als Erzieherin im venezianischen Waisenhaus „Francesco Biancotto“, einer Initia­tive ehemaliger Partisanen für Kinder, deren Eltern im Befreiungskampf ermordet worden waren. Hier fanden die verwaisten Kinder, die im Krieg selbst Furchtbares erlebt hatten, Aufnahme und Zuneigung, sie erhielten Bildung, die auf antifaschistischen und demokratischen Grundsätzen basierte.

Nadja Bennewitz

Weiterführende Literatur:
Giulio Bobbo: Widerstand in der Lagune. Venedig und das venezianische Festland,
in: 152006, S. 26-27
Gudrun Jäger / Liana Novelli-Glaab (Hg.): … denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt. Judentum und Antisemitismus im modernen Italien, Berlin 2007
Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014