Rosario Bentivegna (1922-2012) und der römische Widerstand
Rosario Bentivegna kam in dem Jahr auf die Welt, als der Faschismus an die Macht kam. Seine Kindheit und Jugend in Rom war sowohl von faschistischer Propaganda als auch von kirchlicher Indoktrination geprägt. Von starker Neugier getrieben, las er als Jugendlicher philosophische Werke, wodurch sein bürgerliches Weltbild ins Wanken geriet. Der Auslöser für seine Politisierung und antifaschistische Arbeit waren die Rassengesetze von 1938. Bentivegna war damals 16 Jahre alt.
„Ich war im römischen Ghetto zur Schule gegangen und hatte sehr viele jüdische Freunde, viele meiner Lehrer waren Juden und plötzlich waren sie alle weg. Das gesellschaftliche Leben verflachte durch diese ‚rassistische Schandtat‘. Zusammen mit anderen gründete ich in der Schule eine erste antifaschistische Organisation. Wir trafen uns natürlich geheim, manchmal auch mit einem Lehrer, und diskutierten über tagespolitische Themen oder über persönliche Angelegenheiten, die sich aus unserer Opposition zum Faschismus ergaben.
Wir bekamen in der Schule nicht Karl Marx zu lesen, aber in Ökonomie wurde er angesprochen und das hat mich sehr interessiert. Wir begannen, uns intensiver damit zu beschäftigen, schrieben schließlich selber Flugblätter und haben zum Schluss sogar eine zweiwöchige Zeitung herausgegeben, die wir im Untergrund verteilten.
1941 wurde ich verhaftet. Als Medizinstudent war ich vom Kriegsdienst freigestellt. Doch dann erließen sie eine Sonderregelung, nach der alle Freigestellten doch eingezogen werden sollten. Das passte selbst faschistischen Studenten nicht. So besetzten wir aus Protest die Universität, woraufhin viele der Anstifter verhaftet wurden, darunter auch ich. Nach einem Monat wurden wir aber nach und nach wieder freigelassen mit der Auflage, nicht an politischen Versammlungen teilzunehmen. Die Arbeiter aber, die auch an der Unibesetzung teilgenommen hatten, wurden an das Tribunale Speciale, einer italienischen Variante des Volksgerichtshofes, überstellt und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Von den Studenten kamen vier in die Verbannung, drei Kommunisten und ein Anarchist.
Bei mir zu Hause machten sie eine Hausdurchsuchung und fanden dabei das Archiv unserer Zeitung. Insofern wussten die Faschisten, wer ich war.
„Es lebe die Freiheit!“
Dann kam der 25. Juli 1943. Das weiß ich noch ganz genau, da bekomme ich heute noch Gänsehaut, wenn ich an die Freude von damals denke. Ich saß abends zuhause und spielte mit meinem Vater Schach bei Kerzenlicht, die Stadt war ja verdunkelt. Und im Radio kam plötzlich die Meldung, dass der König den Rücktritt von Mussolini akzeptiert habe. Und ich dachte, das kann doch gar nicht wahr sein! Wir haben dann aus dem Fenster geschaut und man sah, dass hier und da auch andere Fenster aufgingen. Aus einem Fenster rief jemand ‚Es lebe die Freiheit!‘ und immer mehr Lichter gingen an.
Bei uns zuhause herrschten strenge Sitten. Von wegen abends ausgehen, das war alles streng reglementiert. Ich sah, wie sich die Leute auf der Straße sammelten und ich sagte meinem Vater: ‚Ich gehe jetzt.‘ Er aber meinte, ‚Nein, du bleibst hier, das ist viel zu gefährlich.‘ Ich war da schon 22 Jahre alt und ich wollte da hin. Er sagte noch, ‚Wenn du gehst, brauchst du nicht wieder zu kommen.‘ Da habe ich ihm geantwortet, ‚Ja, ist in Ordnung‘, und bin gegangen.
In dieser Nacht wurden die faschistischen Parteibüros verwüstet, wir besetzten das Redaktionsgebäude der faschistischen Zeitung ‚Lavoro Fascista‘ und ich schrieb meinen ersten Artikel in einer richtigen Zeitung: La Scossa – Der Aufstand. Wir druckten in dieser Nacht unsere erste und letzte Ausgabe. Es war einfach unglaublich, was auf den Straßen los war!
Dann wurde die Militärregierung von Badoglio eingesetzt, die freie Presse wurde wieder verboten. Wir konnten zwar öffentlich diskutieren und es gab auch Demonstrationen, doch auch Repressionen und Tote. Es war klar, dass sich noch einmal etwas verändern musste, das lag in der Luft.
Planskizze für die Aktion in der Via Rasella
Auf den 8. September und den Waffenstillstand waren wir allerdings nur schlecht vorbereitet. Wenn man vom römischen Widerstand spricht, dann wird immer nur von den Kämpfen an der Porta San Paolo erzählt, von der Räumung des Ghettos, der Via Rasella und den Fosse Ardeatine. Das ist ein viel zu eng gefasster Begriff von Widerstand, man sollte viel mehr allgemein über widerständiges Verhalten reden.
Nicht nur an der Porta San Paolo wurde Widerstand gegen die Deutschen geleistet, sondern an vielen Orten. Meiner Meinung nach nimmt die Resistenza von Rom aus ihren Anfang. Rom ist die einzige italienische Stadt, die sich von Anfang an militärisch gegen die deutsche Besatzung gewehrt hat. Auch in den Tagen danach hat sich eine Solidarität entwickelt, eine militärische wie eine politische, so dass es möglich war, dass 10. 000 Soldaten einfach ‚verschwinden‘ konnten. Sie wurden von den römischen EinwohnerInnen versteckt, verpflegt und neu eingekleidet. Das ist das, was den römischen Widerstand ausgemacht hat: eine ‚disobbedienza di massa‘ – ein massenhafter Ungehorsam. Die sechs im CLN, dem Nationalen Befreiungskomitee organisierten Parteien legten Waffendepots an und schufen eigene militärische Strukturen. Die militärisch aktivsten Gruppen waren die der kommunistischen, der sozialistischen und der Aktionspartei, insgesamt ca. 7.000 Bewaffnete.
Die ersten militärischen Aktionen wurden gegen die Faschisten durchgeführt. Sie zogen oft laut singend und schwer bewaffnet durch die Stadt, zeigten Präsenz, doch wir bekämpften und verjagten sie. Selbst als sie sich nur noch in Marschformationen durch die Stadt trauten, haben wir sie noch angegriffen.
Wir griffen aber natürlich auch die deutschen Nazis an, gleich im Herbst 1943. Wir standen in Verbindung mit den Partisanengruppen in den Bergen und führten mit ihnen gemeinsame Aktionen durch. Daraufhin wurde in Rom das Ausgangsverbot auf 16.30 Uhr vorverlegt. Jeden Tag gab es Durchkämmungsaktionen, ganze Straßenzüge wurden abgesperrt und durchsucht und die sich versteckt haltenden Männer zur Zwangsarbeit deportiert.
Nägel mit vier Spitzen
Am 21. Januar 1944 landeten die Alliierten in Anzio an der Westküste und forderten uns Römer zum Aufstand auf. In dieser Situation lehnten wir uns sehr weit aus dem Fenster. Wir befreiten ganze Vorstädte von Faschisten und Nazis. Ich und ein paar Genossen wurden in das Industriegebiet nach Centocelle in die Hügel um Rom geschickt. Wir Partisanen übernahmen für sechs Wochen die ganze Verwaltung und erfuhren große Unterstützung durch die Bevölkerung. Die örtliche Polizei nahm von uns Befehle entgegen. Hier verliefen zwei wichtige Straßen in Richtung Monte Cassino und wir griffen ständig den Nachschubverkehr der Deutschen an. Die faschistische Polizei blieb dabei in ihren Kasernen, wie wir es mit ihnen vereinbart hatten. Auch bildeten sie dort unsere neuen Partisanen an Waffen aus.
In Centocelle unterstanden mir immerhin 140 bewaffnete Leute. Wir zogen jeden Abend los. Die Deutschen waren immer nachts unterwegs, denn tagsüber befürchteten sie Luftangriffe. Wir hatten ein schlichtes, aber sehr wirksames Sabotagesystem entwickelt, den ‚Nagel mit vier Spitzen‘. Das waren zwei über Kreuz verschweißte Stahlstäbe, etwa fingerdick. Diese Stahlkreuze warfen wir auf die Straße und eine Spitze bohrte sich immer in einen Reifen der Lkws. So mussten sie anhalten und wir konnten sie mit nur wenigen Leuten angreifen und uns sofort wieder zurückziehen.
Der Aufstand der Römer blieb jedoch aus, zumal die Front der Alliierten ins Stocken geriet.
Der Angriff in der Via Rasella im März 1944 war für uns schließlich ein wichtiger militärischer Erfolg. Wir griffen mit zwei Gruppen an. Die erste deponierte eine Bombe mit 18 Kilo Sprengstoff in einem Müllkarren der Straßenreinigung in der Mitte der Straße. Die zweite Gruppe kam mit Handgranaten. Als die Bombe in der Müllkarre explodiert war und die Deutschen aufhielt, wobei ca. ein Drittel von ihnen getötet wurde, wurden sechs oder sieben von diesen Handbomben geworfen, um den Angriff zu ergänzen. Wir haben uns dann sofort zurückgezogen und hatten keine Verluste zu verzeichnen.
Es war meine Aufgabe, den Müllkarren mit der Bombe in die Via Rasella zu schieben. Mir sind Bekannte begegnet und ich hatte Angst, sie könnten mich erkennen. Ich sah zwar etwas anders aus, mit Hut und auch ohne Brille. Aber trotzdem. Ich habe jahrelang von diesem physischen ‚nackt sein‘ geträumt. Ich hatte Alpträume, in denen ich wirklich ganz nackt, also ohne Kleidung, die Straße entlang ging!
Willkürliche Verhaftungen nach dem Anschlag in der Via Rasella
Mit dem dann folgenden Massaker in den Fosse Ardeatine haben wir nicht gerechnet. Auch wenn wir natürlich wussten, dass es Vergeltungsmaßnahmen gab, dass die Widerstandsaktionen überall in Europa grausame Folgen für die Bevölkerung haben konnten. Wir haben darüber auch im Vorfeld miteinander diskutiert: Wollen wir uns dem Terror beugen, wollen wir uns so erpressen lassen? Und wir kamen zu dem Schluss, dass wir uns nicht in die Knie zwingen lassen würden. So wie in allen besetzten Ländern gegen die Nazis gekämpft wurde, wollten auch wir kämpfen. Deportationen gab es ohnehin, auch Verhaftungen, Folter, Erschießungen. Trotzdem erwarteten wir keine solche grausame Sühnemaßnahme. Es hatte bisher in Rom keine direkt auf unsere Aktionen folgenden Vergeltungsmaßnahmen gegeben. Es gab zwar immer wieder Durchkämmungsaktionen, bei denen Leute verhaftet, gefoltert, deportiert oder erschossen wurden, aber nicht als direkte Antwort auf unsere Aktionen.
Als die Alliierten nach Rom kamen, war ich überglücklich.“
(Interview v. 13.09.2006, Casa della Memoria, Rom)
Nach der Befreiung Roms am 4. Juni 1944 heiratete Bentivegna seine Kampfgefährtin Carla Capponi (1918-2000), die am Anschlag in der Via Rasella und in Centocelle beteiligt war.
Bentivegna kämpfte weiterhin als Partisan in Jugoslawien bis Kriegsende.