„Es war schwer, seine Würde zu bewahren“

Piero Terracina beim Zeitzeugengespräch 2006 im Museum „Via Tasso“

Piero Terracina erzählt von der Deportation der römischen Juden

Piero Terracina (Jg. 1928) wuchs im faschistischen Italien auf. Er hatte, wie er selbst berichtet, eine ­glückliche Kindheit. Für ihn als jüdisches Kind verschlechterte sich die Situation erst in den späten 1930er Jahren, als antisemitische Ressentiments in der ­italienischen Bevölkerung ­gesellschaftsfähig wurden.

„Als die Faschisten und Mussolini 1922 in Italien an die Macht kommen, geschieht unter den Juden das gleiche, was in anderen Gesellschaftsschichten passierte: Manche schlossen sich den Faschisten an, andere wurden Antifaschisten. Erst 1937 kommt es zu einer ersten antisemitischen Kampagne, losgetreten von der Zeitung „Il Tevere“. Erst da merkten wir, dass sich etwas verändert hatte, dass nach langer Zeit wieder Ressentiments gegenüber Juden geschürt wurden. Um diese neue antisemitische Stimmung unter das Volk zu bringen, gründeten die Faschisten 1938 eine neue Zeitung, die „la difesa della razza“ („Die Verteidigung der Rasse“) hieß.
Aber es blieb nicht bei antisemitischer Stimmungsmache. Im September 1938 kam es zu einer ersten behördlichen Anordnung gegen Juden. Von einem Tag auf den anderen wurden alle jüdischen Lehrer aus den öffentlichen Bildungseinrichtungen vertrieben, wir jüdischen Kinder durften nur noch spezielle Klassen besuchen.

Ich war damals 10 Jahre alt. Über die gesamte Grundschulzeit hatte ich immer dieselbe Klassenlehrerin, die ich sehr mochte und die für mich auch wie Familie war. Und eines Tages im November wartete diese Lehrerin vor der Schule auf mich und sagte: ‚Terracina, du darfst hier nicht mehr rein.‘ Ich war wie vom Blitz getroffen. Wir wurden an diesem Tag komplett von der Schule verwiesen.
Ich war verzweifelt. Daheim wurde viel Wert auf Bildung gelegt. Es war vor allem meine Mutter, die uns immer wieder einschärfte: ‚Das Leben ist nicht leicht, aber wenn ihr lernt, wenn ihr etwas könnt, dann werdet ihr im Leben größere Chancen haben.’
Das Schlimmste aber war, dass ich alle meine Freunde auf der Schule hatte und dass ich ab diesem Tag niemanden mehr von denen gesehen habe. Und wenn man doch mal jemanden auf der Straße mit den Eltern getroffen hat, dann drehten die sich weg und gingen einfach an einem vorbei.
Ich kam in eine jüdische Schule. Es war sehr eng dort, weil alle jüdischen Kinder plötzlich in diese Schule kamen. Aber wir hatten hervorragende Lehrer. Und dann wurde begonnen, auch weiterführende Schulen zu organisieren. Es wurde sogar aus dem Nichts verbotenerweise eine kleine Universität gegründet, die im Untergrund arbeiten musste.
Danach gab es immer weitere restriktive Verordnungen gegen Juden. Das Schlimmste war, dass niemand dagegen protestierte.

Wir waren in unserer Familie vier Kinder, die Eltern und zwei Großeltern. 1940 verlor mein Vater seine Arbeit und meine zwei ältesten Geschwister konnten nicht länger zur Schule gehen. Sie mussten durch Gelegenheitsarbeiten für die Familie sorgen. Ich konnte noch weiter zur Schule gehen und die Mittelschule abschließen. Deshalb hatte sich für mich nach dem Schock von 1938 nicht mehr so viel verändert, ich hatte neue Freunde in der jüdischen Schule, es gefiel mir dort gut. Wahrscheinlich waren meine Eltern schon sehr besorgt, aber das wurde vor mir als kleinem Jungen eher verborgen. Mein Vater hat durch illegale Beschäftigungen etwas Geld verdient, was für ihn sicher eine große Umstellung bedeutete. Mit dem Geld, das meine Geschwister verdienten, ging das Leben, zumindest in ­meiner Wahr­nehmung, einigermaßen gut ­weiter.

50 kg Gold als Schutzgeld

Aber dann kam der 8. September, die Besetzung Italiens durch die Deutschen. 20 Tage später wurden die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden von Herbert Kappler, dem Kommandanten des Sicherheitsdienstes, vorgeladen. Er befahl, binnen 36 Stunden ­
50 kg Gold als Schutzgeld für die ­jüdische Bevölkerung Roms beizubringen. Ich erinnere mich, dass mein Vater total verzweifelt war. Wie sollten die Juden diese Menge aufbringen? Es gab seit fünf Jahren die Rassen­gesetze, seit drei Jahren herrschte Krieg. Es lebten nur noch 10.000 Juden in Rom; wer konnte, war emigriert oder ge­flohen, und wer bleiben musste, war verarmt. Erspartes oder Wertgegenstände waren schon längst verkauft worden, um den Alltag zu bewältigen.
Allerdings war auch der faschistische Konsens in der Bevölkerung geschwunden, die Kriegsfront verlief jetzt mitten in Italien, es gab Bombenangriffe und Hunger. Und diese kritischere Haltung gegenüber dem Faschismus hat auch wieder ein bisschen Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung aufkommen lassen, die in den Jahren davor vollkommen fehlte. ­Tatsächlich konnten die 50 kg Gold aufgebracht werden, da auch Nichtjuden etwas dazu beitrugen, einen Ring oder eine Kette, was ihnen eben geblieben war. Wenn die 50 kg Gold nicht zusammen gekommen wären, aber nur dann (!), wäre der Vatikan mit einer Leihgabe eingesprungen.
Kappler gab daraufhin sein Ehrenwort, dass den Juden nichts passieren würde, und mein Vater, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, sagte: ‚Wir können beruhigt sein, ein Offizier wird nie sein Ehrenwort brechen.’ Aber nur 20 Tage später, am 16. Oktober 1943, kam es zur großen Razzia gegen die Juden. Im Morgengrauen wurde das jüdische Viertel von deutschen Truppen umstellt und im Lauf des Tages die Aktion auf die ganze Stadt ausgeweitet. Und ich muss leider sagen, dass die Deutschen dabei Hilfe von Leuten bekamen, die ihnen zeigten, in welchen Häusern Juden wohnten. An diesem 16. Oktober wurden insgesamt 1.252 Menschen verhaftet.

Die Gefangenen wurden in eine ­Kaserne, das Collegio Militare, gesperrt, das nur 300 m vom Vatikan entfernt lag. Zwei Tage später wurden sie zur Station Tiburtina gebracht und dort in Waggons verladen. Warum erst zwei Tage später? Dies wurde direkt aus Deutschland von Himmler angeordnet, als Test, um zu sehen, ob der Vatikan protestieren würde. Aber da der Vatikan in keinerlei Weise ­reagierte, gab Himmler den Befehl zur Deportation. Ich bin überzeugt, dass wenn Pius XII. den Vatikan verlassen und sich die paar Meter vor dieses Militärgebäude begeben hätte, er hätte verhindern können, dass man diese Menschen deportierte.
Am 23. Oktober kam der Zug in Auschwitz an. 149 Männer und 49 Frauen überlebten die Selektion an der ­„Judenrampe“. Alle anderen wurden am selben Tag vergast und ­verbrannt. Nur 15 Männer und eine Frau kehrten aus Auschwitz zurück.

Ich und meine Familie konnten an diesem Tag aus unserer Wohnung fliehen. Aber wir wurden getrennt, weil wir uns in verschiedenen Kellern verstecken mussten. Ab diesem Moment lebten wir alle in unterschiedlichen Verstecken mit der permanenten Angst, dass wir erkannt und verraten werden konnten. Und das geschah dann auch.
Über sieben Monate hatten wir es geschafft, so zu überleben – bis zum April 1944, bis zum jüdischen Osterfest. Mein Vater schlug vor, dass wir an diesem Tag alle für das traditionelle Ostermahl zusammenkommen sollten. Da Ostern eines der wichtigsten jüdischen Feste ist, haben wir seinem Vorschlag zugestimmt.
Und dann ist abends die SS gekommen. Es hat geklopft, meine Schwester ist an die Tür gegangen und kam völlig verstört mit einem SS-Mann hinter sich ins Wohnzimmer zurück. Der hat ein Papier vorgezeigt, auf dem in Italienisch stand: ‚20 Minuten zum Sachen packen.’ Meine Schwester versuchte, den SS-Mann zu überzeugen, dass wenigstens unser Großvater, der 84 Jahre alt war, verschont bliebe, der aber schrie nur: ‚Raus!’. Unter den Personen, die auf der Straße herum standen, erkannte meine Schwester einen Jungen wieder – offenbar derjenige, der uns verkauft hatte. 5.000 Lire bekam man damals dafür. Der Junge hatte sie angesprochen, als sie Einkäufe für unser Abendessen machte. Meine Schwester hatte diesen Jungen abgewiesen, und er wollte sich wohl rächen.
Wir kamen in das Durchgangslager Fossoli. Gut war es nicht bewacht, Partisanen hätten uns rausholen können. Die Bevölkerung wusste von dem Lager, es führte eine Straße vorbei, es gab Felder ringsherum, die Bauern arbeiteten dort. Von Fossoli kamen wir in Viehwaggons ohne Wasser und ohne Essen nach Auschwitz. Die Reise dauerte sieben Tage und Nächte. Am Münchner Ostbahnhof haben wir ein einziges Mal Suppe vom Roten Kreuz bekommen. Nur wenn der Zug hielt, konnten wir aussteigen, um unser Abteil zu säubern. Es ist schwer zu erzählen, wie schnell man sich als Mensch gehen lässt, wenn man tagelang in
seinem eigenen Kot und Urin liegt.

Im Ghetto von Rom

Im Ghetto von Rom

In Auschwitz wurden wir aus den Waggons getrieben, die SS mit ihren Hunden schlug mit Schlagstöcken auf uns ein. In den Waggons war meine Familie getrennt gewesen, die Männer in einem Waggon, die Frauen in einem anderen. Bei der Ankunft suchte ich erst Mal nach meiner Schwester und meiner Mutter, ich hatte ja auch den alten Großvater dabei. Trotz der Schläge und der Hunde haben wir uns als Familie zusammengefunden. Als sie uns wieder nach Männern und Frauen trennten und in Reihen aufstellten, sagte meine Mutter: ‚Geht mal ruhig.’
Nach und nach, im Laufe der Monate, verlor ich dann meinen Onkel, der selektiert wurde, und meine Brüder, die in andere Lager kamen. Am Ende war ich alleine und sehr verzweifelt.

Ich erzähle nicht von Auschwitz, das ist zu schmerzhaft und zu beschämend. Ich erinnere mich, dass meine Vater im Gefängnis in Rom gesagt hatte: ‚Ich bitte euch, verliert niemals eure Menschenwürde.’ Aber das ist nicht so einfach, wenn man Hunger hat. Wenn man seinen Peiniger anfleht, etwas mehr zu essen zu bekommen, dann verliert man seine eigene Würde.

Als ich im Dezember 1945 zurück kam, war niemand da. Niemand war zurückgekommen. Und ich war aufs Neue total verzweifelt.
Danach ist ein anderes Leben losgegangen …“

(Interview v. 14.09.2006, Museo storico della liberazione, Rom)

Buchtipp: „Warum Piero Terracina ­sein Schweigen brach“
Matthias Kaufmann, Georg Pöhlein, Andrea Pomplun (Hg.)
Erich Weiß Verlag, Bamberg 2013 incl. Hör-CD