Sabotatori

Fernando „Toni“ Cavazzini: Fluchthelfer, Saboteur, Genossenschafter

28. Juli 1943: Trotz eines Versammlungsverbotes der Übergangsregierung Bardoglio gehen tausende Beschäftigte der „Reggiane“, einer Rüstungsfabrik für Kampfflugzeuge in Reggio Emilia, für ein Ende des Krieges auf die Straße. Als sie die Werkstore passieren, werden acht Arbeiter und eine Arbeiterin ­erschossen.
Fernando Cavazzini kann sich noch gut an das „Massaker der Reggiane“ erinnern. „Von diesem Tag an wurde ich ein anderer Mensch.“ ­Er wollte nicht mehr weiterarbeiten, als ob nichts gewesen sei, und nahm Kontakt zu den örtlichen Antifaschisten auf. Er half Soldaten bei der Flucht, ging später in die Berge und schloss sich als Partisan „Toni“ der 26° Brigade Garibaldi „Enzo Bagnoli“ an.

Fernando Cavazzini wurde am ­23. September 1923 in Reggio Emilia geboren. Sein Vater war Schuster, seine Mutter Hausfrau und Tage­löhnerin. „Niemand in meiner Familie war ­faschis­tisch, aber sie waren nicht ­organisiert – abgesehen von mir, ich war in der ‚Azione Cattolica‘ (Katholische Aktion)“.
Seine Schulzeit beschränkte sich auf 5 Jahre, fortan versuchte er zu arbeiten. Mit 14 stand er jeden Morgen vor dem Arbeitsamt, um einen Job bei „Reggiane“ zu ergattern. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus, er wurde ein begeisterter und technisch interessierter Arbeiter der wichtigsten Waffenfabrik der Region. „Ehrlich gesagt, ich war katholisch und ging in die Kirche. Arbeiten und Kirche, das war alles für mich, ich war nie an Politik interessiert.“
Dann begann der Krieg. Im Frühjahr gab es Streiks bei der „Reggiane“, Freunde von Cavazzini wurden dabei festgenommen. „Von da an begann ich nachzudenken: Was machte ich da wirklich? Ich arbeitete Tag und Nacht daran, die Kriegsproduktion zu steigern, während der Krieg Menschen tötete.“
Er suchte den Kontakt zu antifaschistischen Organisationen und der ­Untergrundbewegung.
Am 8. September 1943 schloss Mussolinis Nachfolger Badoglio einen einseitigen Waffenstillstand mit den Alliierten. Norditalien wurde daraufhin von der deutschen Wehrmacht besetzt. Cavazzini und fast seine gesamte ‚Azione Cattolica‘ unterstützten von diesem Tag an Soldaten, die entkommen wollten. Sie versorgten die Soldaten mit Zivil- und sogar Priester­kleidung, begleitetenn sie, bis sie alleine weiterziehen konnten. Mehr als 600.000 italienische Soldaten wurden damals festgenommen und als „Militär­internierte“ nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert.

Aktiv zum Ende des Krieges beitragen

Seit dem „Massaker der Reggiane“ war Cavazzini fest entschlossen, der Resistenza beizutreten. Er wollte aktiv zum Ende des Krieges beitragen.
Als Anfang März 1944 bekannt wurde, dass sich eine Partisanenformation in der Gegend aufhielt, zogen Fernando Cavazzini, sein Freund Cocchi und fünf weitere los in die Berge und schlossen sich den PartisanInnen an. Sie legten sich Decknamen zu: Cavazzini war fortan ‚Toni‘, andere nannten sich ‚Lupo‘, ‚Polvere‘ oder verwendeten abgewandelte Namen ihrer Freundinnen. Die richtigen Namen wurden gesammelt, nach Carpineti gebracht und dort sicher versteckt. Die Deutschen konnten so weder Adressen noch Familien in Erfahrung bringen.
„Jede unserer Organisationen hatte ihren Kommandeur und ihren politischen Kommissar. Am Abend gab es immer die „politische Stunde“. Man sprach über so ziemlich alles, über die Verpflegung, den Hunger, die Bewaffnung. Aber auch Sachen wie: Wie verhalten wir uns dem Feind gegenüber, wie verhalten wir uns untereinander? Natürlich lief nicht immer alles glatt.“

Partisanen in den Bergen

Cavazzini mit anderen Partisanen in den Bergen

Toni war an Aktionen in der gesamten Bergregion um Reggio Emilia beteiligt. Eine der größten Auseinandersetzungen in dieser Gegend war die Schlacht in Cerrè Sologno (15.3.44):
„Luigi sollte mit 30 Männern die Gatta-Brücke sprengen und die Garnison, die sie bewachte, entwaffnen. Wir anderen musste nach Ligonchio gehen und die Garnison von 20-25 Faschisten neutralisieren.
Nachdem wir bereits – ohne Abendessen – die Nacht durch marschiert waren, kamen wir um 7 Uhr früh in Cerrè Sologno, auf dem halben Weg zwischen Santonio und Ligonchio, nicht mehr weiter. Deutsche Aufklärungsflugzeuge flogen über das Gebiet und hätten uns gesehen. Also machten wir dort eine Pause, um am Abend weiter zu laufen. Um 8 Uhr gab eine unserer Wachen einen Schuss ab und die Deutschen waren da. Wir hatten im Süd-Osten die ersten Häuser unter Kontrolle, die Deutschen den Westen und Norden. In manchen Fällen waren aber Faschisten, Deutsche und Partisanen im gleichen Haus. Ich erinnere mich an diesen Partisanen in einem Haus, als die Türe aufging und ein Deutscher mit seinem Gewehr rein kam. Jeder richtete die Waffe auf den anderen, bis der Deutsche zurück ging, ohne zu schießen. Hätte er es getan, wären beide gestorben, deshalb ging er einfach so nach draußen.
Unser Kommandant Miro und Bar­bolino, der Kommandant derer von Modena, waren schwer verwundet. Eines unserer Maschinengewehre hatte die falsche Munition und ­feuerte nicht einen Schuss. Das andere arbeitete gut, stand aber an einer offenen Stelle, weil wir alles sehr in Eile hatten tun müssen. Nach dem erste Schuss wurde unser Schütze von einem Deutschen mitten in den Kopf getroffen und getötete. Also war auch das Maschinengewehr nutzlos. Wir waren schlecht ausgerüstet, während die anderen richtig gut bewaffnet waren mit MGs. Wir waren zu viert an der höchsten Stelle von Cerrè Sologno. Viktor, ein Russe, hatte unser einziges Maschinengewehr, das eine Frau einem Faschisten in Montecavolo abgenommen hatte. Ein junger Mann lief auf der Hauptstraße mit einem Gewehr auf uns zu, aber als ihm klar wurde, dass drei oder vier ­Gewehre auf ihn gerichtet waren, hob er die Hände und ließ sein Gewehr fallen. Wir nahmen ihn gefangen, befragten ihn nach Neuigkeiten und brachten ihn zur Kommandantur, wo auch unsere Verwundeten waren. Barbolinis Schwester Sonia sagte uns, dass eine deutsche Einheit aus Cinquecerri auf dem Weg sei. Auf den Bergen hinter uns lag über ein Meter Schnee, wenn wir einfach so den Rückzug angetreten hätten, hätte sie uns erschossen; es gab nichts was wir tun konnten.
Die Faschisten hatten bemerkt, dass ein Kolonne von Menschen kam: Sie dachten, es seien Deutsche oder Faschisten auf ihrem Weg sie zu unterstützen. Aber es war Luigi, der über das Gefecht in Cerrè informiert worden war, nachdem er Faschisten in einem anderen Ort entwaffnet ­hatte. Nach seiner Ankunft übernahmen wir die Kontrolle über drei viertel des Ortes. Die Deutschen schafften es nur auf die Westseite, dort lösten sie sich auf: Einige flohen, zehn Deutsche waren gestorben, etliche verwundet und wir hatten 22 Gefangene, die sich ergeben hatten. Auf unsere Seite gab es 7 ­Opfer und 11 Verwundete. Die Schlacht endete gegen zwei Uhr nachmittags, sie war eine der härtesten während der ganzen Resistenza.“

Später wurde Toni Leiter der Sabotageeinheit „Demonio“. Die Gruppe sabotierte sämtliche Bahnstrecken im Reggiano und sprengte viele Brücken in der Ebene und in der Bergregion.
„Manchmal ging unsere Gruppe zusammen los, manchmal gingen nur zwei oder drei. Wir waren ständig auf den Beinen, nicht nur hier in den Bergen. Auch in der Poebene und auf der anderen Seite der Berge, in der Tos­cana, waren wir eingesetzt. Wir um­gingen Kampfgebiete, um hinter dem Rücken der Deutschen Brücken zu sprengen, die Munitionszufuhr zu unterbrechen oder Verwirrung zu stiften. In den Tagen des Rückzugs der deutschen Truppen stellten wir eine deutsche Wegausschilderung in die falsche Richtung auf. Dadurch verlief sich eine große Wehrmachtseinheit in eine Sack­gasse und konnte gefangen ­genommen werden.“

mp3 Originalton   Deutsche Übersetzung 

Widerstandsrepublik

PartisanInnen der Republik Montefiorino

PartisanInnen der Republik Montefiorino

Toni: „Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, dass diese relativ kleine ­Partisanenbewegung plötzlich große ­Erfolge zu haben schien. Das führte dazu, dass im Laufe des Monats Juni unsere Einheit bis auf 2000 Personen anwuchs.
Auch die Einheiten im Bereich Modena wuchsen innerhalb kurzer Zeit auf 5000 Personen an. So konnten wir insgesamt ungefähr 7000 Leute hier in den ­Bergen zusammenziehen. Mitte Juni 1944 konnten wir im Hochapennin zwischen Reggio Emilia und Modena eine sieben ­Gemeinden umfassende Partisanen­republik auszurufen und organisieren: eine ca. 40 km breite Fläche, wo erstmalig seit zwanzig Jahren wieder ein Gemeinde­rat gewählt wurden. Die Alliierten haben uns dort fast täglich versorgt und wir hatten angefangen, Landebahnen für kleine Flugzeuge zu konstruieren. 
Bei einer großer Durchkämmungs­aktion am 30. Juli zerstörten die ­Deutschen die Partisanenrepublik.“

Im Frühling 1945 war in Italien der Krieg vorbei. Eineinhalb Jahre ­Widerstand in den Bergen hatten Tonis Leben verändert. Er wollte sich weiter für eine andere Gesellschaft einsetzen. So lernte er das Bauhandwerk und gründete eine Kooperative. Für dieses Vor­haben erntete er erst einmal viel Spott, schließlich lag die Wirtschaft am Boden und viele waren arbeitslos. Aber sein Maurer­kollektiv setzte sich durch. Als er in Rente ging, umfasste es über 600 ArbeiterInnen und Angestellte. Er beriet andere Kooperativen bei der Gründung und sein Kollektiv stellte Kredite bereit.
Noch heute gibt es in Norditalien viele und gut vernetzte Genossenschaften. Diese Kultur des kollektiven Arbeitens ist eine Errungenschaft der Resistenza.

Wolfgang Most

Zitate von Cavazzini aus:
Archiv des Europäischen ­Widerstands www.resistance-archive.org und aus seinen Erzählungen
bei den 
Sentieri Partigiani 

sabotatori

Der Dokumentarfilm Sabotatori erzählt die Geschichte von Fernando Cavazzini und andere alte und neue Geschichten über Widerstand.