Marzabotto: Das Massaker und der späte Prozess

Eingang zum Friedhof. 
Von überall her flüchteten sich die BewohnerInnen des Monte Sole in die Kirche von Casaglia, in der Hoffnung, dort in Sicherheit vor der deutschen Razzia zu sein. Doch alle - mit Ausnahme eines Priesters, einer gelähmten Frau und zwei Kindern, wurden von den Soldaten aus der Kirche getrieben und später auf dem Friedhof erschossen.

Der Name Marzabotto steht in Italien seit 1945 stellvertretend für die Morde und Gräueltaten, die während der deutschen Besatzung von
1943-1945 von Soldaten der Wehrmacht, der Waffen-SS, den Polizeieinheiten und ihren faschistischen Helfers­helfern an italienischen ZivilistInnen verübt worden waren.

Am 13. Januar 2007 endete vor dem Militärtribunal in La Spezia der Marza­botto-Prozess mit der Verurteilung von neun deutschen und einem österreichischen ehemaligen Soldaten der 16. SS-Panzer-Division „Reichsführer SS“ zu lebenslänglicher Haft wegen mehrfachen Mordes an ZivilistInnen. Alle gemeinsam müssen sie laut Urteilspruch die Prozesskosten zahlen und Entschädigungen von mehr als
10 Mio. € an die Überlebenden und Familienangehörigen der Opfer ­sowie an die Gemeinden Marzabotto, ­Grizzana und Monzuno. Sieben Ange­klagte wurden freigesprochen.

Eine gezielte Aktion gegen die Zivilbevölkerung

Ende September 1944 umstellen Einheiten der Wehrmacht und der 16. SS-Panzer-Division „Reichsführer SS“ das Gebiet des Monte Sole südlich von Bologna. Ein Gebiet, das zu den Gemeinden Marzabotto, Grizzana und Monzuno gehört. Von der Hochebene des Monte Sole aus operierte seit Monaten die immer größer werdende Partisaneneinheit Stella Rossa (Roter Stern), die den deutschen Truppen mit Überfällen auf die Nachschub- und Rückzugswege in Nord-Süd-Richtung zwischen der Toskana und der Poebene erheblich zu schaffen machte. Als die Einheiten der Waffen-SS sich am 29. September von verschiedenen Seiten in Richtung Hochebene bewegen, vermuten die BewohnerInnen zunächst eine Aktion gegen die Partisanen oder/und an eine der üblichen Durchkämmungsaktionen zur gewaltsamen Verschleppung von Männern zur Zwangsarbeit.

Die Männer im arbeitsfähigen Alter verstecken sich deshalb in den Wäldern. Die Frauen und greisen Männer bleiben mit den Kindern in den Weilern und Gehöften, weil sie denken, dass sich die deutschen Soldaten für sie nicht interessieren werden. Ein tödlicher Irrtum: Zu Beginn der Durchkämmungsaktion kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Partisanen, bei denen auch deren Kommandant getötet wird und die Partisanen sich zurückziehen müssen, aber damit geben sich die deutschen Soldaten nicht zufrieden. Sie töten von Anfang an unterschiedslos Kinder, Frauen, Männer, massakrieren sie mit Schusswaffen und Handgranaten in den Häusern, die sie anschließend anzünden, wobei viele Menschen bei lebendigem Leib verbrennen. Heute weiß man, dass es bei dieser Aktion von Anfang an nicht um einen Kampf gegen Partisanen ging, sondern dass diese gezielt geplant und zur Ausrottung der Zivilbevölkerung im Gebiet des Monte Sole durchgeführt wurde, um die Verteidigung und den Rückzug der Deutschen zu sichern. Weiler für Weiler werden überfallen, keiner der verstreut liegenden Bergbauernhöfe bleibt verschont. Die Menschen fliehen in Kirchen und Kapellen, in der Hoffnung, dass die Gotteshäuser für die deutsche Soldateska tabu sind. Sie täuschen sich, sie werden wie im Oratorio von Cerpiano entweder in der Kapelle ermordet oder wie in
San Martino und Casaglia aus den Kirchen getrieben und dann umgebracht. Es ist eine gnadenlose Jagd, eine von unglaublichen Brutalitäten begleitete Metzelei, die sich über mehrere Tage hinzieht.

Mehr als 800 Menschen fielen ­diesem Massakern zum Opfer, darunter 216 Kinder. Wie viele es genau waren, weiß man nicht, da zahlreiche Flüchtlinge und Ausgebombte aus den Städten hier lebten, die nirgendwo registriert waren. Die Gesamtzahl der Toten ist deshalb möglicherweise höher als die offiziell benannte. Und diejenigen, die in ihre zerstörten Weiler zurückkehrten, fanden noch Monate nach Kriegsende den Tod durch von deutschen Soldaten gelegte Minen.

Nur wenige Menschen haben das Massaker auf dem Monte Sole überlebt. Sie traten jetzt als ZeugInnen in diesem Prozess auf. Nur einige von ihnen erzählen ihre Geschichte ­bereitwillig, weil sie von der Barbarei des Krieges Zeugnis ablegen wollen, in der Hoffnung, dass die Menschen daraus lernen. Viele reden nur ungern über die schrecklichen Erlebnisse, ­einige gar nicht.

Während des Prozesses bricht ­Gianfranco Lorenzini bei seiner Zeugenaussage mehrmals zusammen, überwältigt von den schrecklichen Bildern: Als 13-Jähriger, der sich versteckt hatte, musste er mit ansehen, wie die BewohnerInnen seines Weilers San Martino aus den Häusern ­getrieben und dann erschossen wurden. Zunächst die alten Männer, dann die Kinder, wobei der Körper seiner 3-jährigen Schwester wie beim Tontaubenschießen in die Luft geworfen und von einer Maschinengewehrgarbe zerfetzt wurde. Danach waren die Frauen an der Reihe, darunter auch seine Mutter. Sie wurden erst vergewaltigt und dann erschossen.
Francesco Pirini musste als 17-jähriger miterleben, wie eine Gruppe Soldaten 47 Menschen, darunter seine Mutter, seine Schwester, Tanten und Cousinen in einer Kapelle einsperrten. Dann warfen sie Handgranaten durch Fenster und Türen, „damit sie langsam und qualvoll sterben“. So hatte es der Kommandant nach Aussage eines seiner Soldaten bei Vernehmungen durch die Alliierten angeordnet.
36 Stunden dauerte das Sterben in der Kapelle, während die Soldaten draußen aßen, tranken und beim Spiel einer Harmonika, die sie im Kindergarten gefunden hatten, grölten. Nur die Kindergärtnerin Antonietta Benni, der 8-jährige Fernando Piretti und die
6-jährige Paola Rossi überlebten, weil sie für tot gehalten wurden bzw. unter den Leichen versteckt lagen.

Der Zeuge Pietro Zebri erzählt, wie er seine hochschwangere Schwester tot fand, mit aufgeschlitztem Bauch, den erschossenen Fötus neben ihr liegend. Geschichten wie diese wiederholten sich in den Tälern und auf der Hochebene des Monte Sole vom
29. September bis 5. Oktober 1944 immer wieder. Erschlagenen, erschossenen, verbrannten Kinder, Frauen, greise Männer – in den Wehrmachtsberichten werden sie zu „Bandenmitgliedern“ und „Bandenhelfern“, für deren Vernichtung Generalfeldmarschall Kesselring seinen Soldaten ein besonderes Lob ausspricht.

Der Prozess: Keine Worte des Bedauerns

Am 13.1.2007 verkündet der Vor­sitzende Richter in La Spezia die Urteile. Die Reaktionen im Gerichtssaal fallen unterschiedlich aus: Genugtuung über die Verurteilungen, aber auch Enttäuschung. Die Vertreter der politischen Institutionen sind überwiegend zufrieden. Ferruccio Laffi, der 14 Familienangehörige bei dem Massaker verlor, hätte lieber alle ­Angeklagten verurteilt gesehen.

Er und einige Betroffene sind auch empört darüber, dass keiner der Angeklagten auch nur ein Wort des Bedauerns geäußert hat, dass keiner bereit war, zur Aufklärung der Geschehnisse in jenen Tagen beizutragen. Statt dessen tischten sie in ihren Vernehmungen Lügen, Verharmlosungen und die üblichen Entschuldigungen auf, wie der Verurteilte Hubert Bichler in einem Interview, das die Zeitung „La Repubblica“ am 17.01.07 veröffentlichte: „Im Gebiet des Monte Sole ging es am 29.09.1944 nur um einen Kampf gegen Partisanen, wir haben nicht auf Zivilisten geschossen und wir haben auch keine toten Zivilisten gesehen, ich habe nur den Befehlen gehorcht, hätte ich dies nicht getan, wäre ich erschossen worden.“ Das ist ein immer wieder kehrendes Aussagemuster in diesem Prozess. Einige Angeklagte leugneten erst einmal, zur Zeit der Massaker überhaupt bei einer der beteiligten Militäreinheiten anwesend gewesen zu sein – bis der Staatsanwalt das Gegenteil beweisen konnte. Eine Strategie, der auch als Zeugen aufgerufene ehemalige deutsche Soldaten folgen. Weder die Angeklagten noch die Zeugen erinnerten sich an Namen von noch lebenden Kameraden und Kommandeuren ihrer Einheiten, bestenfalls an die Namen der bereits gestorbenen (gemäß dem Schwur „Treu dem Führer und der Waffen-SS“). Von den Angeklagten ist keiner zum Prozess nach La Spezia gekommen, das deutsche Recht zwingt sie auch nicht dazu.

Kriegsverbrecher werden nicht ausgeliefert

In der Presse und in anderen Medien wurden die Urteile von Journalisten, Historikern und Politikern als symbolisch bezeichnet, als öffentliche Ächtung der Taten durch die Verurteilung der Täter. Symbolisch, weil dem Akt der Rechtssprechung keine reale Umsetzung folgen wird, da die Täter, dank der bundesrepublikanischen Verfassung, weiter unbehelligt in Deutschland leben können. Um öffentlichen Druck für eine Anklage­erhebung in Deutschland aufzubauen, wurden mehrere bundesweite Ak­tionstage organisiert. Dabei ging es darum, Öffentlichkeit herzustellen, die in Italien verurteilten Kriegsverbrecher beim Namen zu nennen und ihre Taten an ihren Wohnorten bekannt zu machen. Trotzdem, und obwohl das Urteil in Italien seit Oktober 2008 rechtskräftig ist, wurden die deutschen Ermittlungen gegen die in Italien verurteilten Täter von Marzabotto 2009 in München eingestellt, „weil eine Zuordnung von einzelnen Tätern zu einer Tat auf Grund des Zeitablaufs nicht gelungen ist“. Vollstreckungshilfeersuchen, die Möglichkeit, die italienischen Urteile in Deutschland zu vollstrecken, des zuständigen italienischen Militärstaatsanwalts Marco De Paolis verliefen im Sande; Ob im italienischen Justizministerium oder in den zuständigen deutschen Landesjustizministerien ist unklar. Die deutsche Gesellschaft ist bis heute nicht bereit, für diese Kriegsverbrechen und ihre Folgen die Verantwortung zu übernehmen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Opfer zu ­entschädigen.

Marianne Wienemann, Prozessbeobachterin in La Spezia