„Geschichtsfälschungen verhindern“

Dr. Pier Paolo Rivello

Interview mit dem Militärstaatsanwalt von Turin

Es geht nicht nur um die Tragödie in Cumiana, sondern auch um andere Geschehnisse, zum Beispiel die Erschießung am 10. August 1944 in Mailand, die unter dem Namen Piazzale Loreto bekannt geworden ist …

Dr. Pier Paolo Rivello ist Militärstaatsanwalt in Turin und ermittelte wegen der Erschießung in Cumiana gegen Anton Renninger  (Vergrößern: auf das Bild klicken)

Verein zur Förderung alternativer Medien:
Warum nahmen Sie die Ermittlungen im Fall Cumiana auf?

Rivello: Es geht nicht nur um die Tragödie in Cumiana, sondern auch um andere Geschehnisse, zum Beispiel die Erschießung am 10. August 1944 in Mailand, die unter dem Namen Piazzale Loreto bekannt geworden ist. Aufgabe der Militärstaatsanwaltschaft war es, erst einmal bei Interpol nachzufragen, ob die beteiligten Personen noch am Leben sind. Soweit dies der Fall war, haben wir begonnen Material zu sammeln oder vorhandene Unterlagen zu vervollständigen. Da es sich hier um historische Begebenheiten handelt, ist es nicht ganz einfach Nachforschungen anzustellen. Im Verfahren gegen Renninger war sicher sein schlechte Gesundheitszustand von Bedeutung. Es galt zu prüfen, ob überhaupt eine erfolgreiche Verhandlung durchgeführt werden könnte.

Haben Sie Anfragen zu ihren Ermittlungsergebnissen von Seiten der Nürnberger Staatsanwaltschaft erhalten?

Rivello: Was Renninger angeht, haben wir nie Nachfragen erhalten.

Was sind die Beweggründe nach 50 Jahren diese Prozesse einzuleiten?

Rivello: Sofort nach dem Krieg beschlossen die Alliierten, Prozesse, die mit Erschießungen in Italien zu tun hatten, ähnlich zu veranstalten wie in Nürnberg – natürlich auf einem anderen Niveau. Doch dieses Vorhaben löste sich in Rauch auf. Alle Prozessunterlagen wurden zentral in Rom aufbewahrt und hätten an die verschiedenen Militärstaatsanwälte verschickt werden müssen. Das geschah aber nicht. Die Unterlagen verblieben in Rom. Ein Briefwechsel zwischen dem italienischen und dem deutschen Außenministerium dokumentiert, wie sich die italienische Seite im Laufe der Jahre darüber bewusst wurde, dass diese Prozesse aus Rücksicht auf die Beziehungen zu Deutschland nicht mehr geführt werden sollten. Die Dokumente wurden also zusammengestapelt und im Schrank verstaut. Dort gerieten sie dann in Vergessenheit. Ihre Wiederentdeckung 1994 ist eine unglaubliche Geschichte: Während irgendwelcher Arbeiten wurde dieser große Schrank geöffnet, der seit Jahren zugeschlossen war und dessen Inhalt niemand kannte. Als man ihn öffnete, stellte man fest, dass er all diese Unterlagen über Kriegsverbrechen in Italien enthielt. 1994/95 wurden sie dann endlich den zuständigen Militärstaatsanwälten zugesandt. Nun musste jeder Staatsanwalt entscheiden, ob Ermittlungen aufgenommen werden oder die Sache eingefroren werden sollte. Ganz frei ist eine solche Entscheidung nicht, jede juristische Struktur hat natürlich ihre Beschränkungen, seien es personelle oder andere.

Ich für meinen Teil denke auch an die Familien, die Überlebenden, die seit 50 Jahren auf Gerechtigkeit warten. Ihnen gegenüber halte ich es für meine Pflicht zu zeigen, dass wenigstens nach so langer Zeit etwas passiert. Schließlich reden wir hier von Ereignissen, bei denen es viele Tote gegeben hat. Und es geht dabei auch darum, Klarheit darüber herstellen, was passiert ist. Über diese Ereignisse sollte nicht der Schleier des Vergessens gelegt werden. Eine Funktion solcher Prozesse ist es auch, mittels der gesammelten Dokumente und Zeitzeugenberichte Geschichtsfälschungen zu verhindern. Diese Berichte können auch noch nach Jahren bezeugen, dass die Geschichte in dieser und jener Art vonstatten gegangen ist.

Gab es eine öffentliche Diskussion in Italien ob diese Prozesse eröffnet werden sollten oder nicht?

Rivello: Abgesehen vom Prozess gegen Erich Priebke, der einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt hat, fanden diese Prozesse in den italienischen Zeitungen ein spärliches Echo. Vielleicht wurden sie im Ausland mehr beachtet. Vielleicht standen auch politische Erwägungen im Hintergrund: Man fürchtet, dass die Eröffnung solcher Prozesse in einem Moment, in dem der innenpolitische Frieden einigermaßen gewährleistet ist, es weniger Widersprüche gibt, welche jahrzehntelang die öffentliche Meinung gespalten hatten, wieder ein Klima der Gegensätzlichkeit schaffen könnten. Diese Meinung teile ich nicht. Harmonie entsteht vielmehr aus einer historischen Klarheit und nicht durch Verschleierung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist.