„Wir wollten den Deutschen und den Faschisten zeigen, dass wir sie nicht mehr in Ruhe lassen würden“

Giulio Nicoletta

Giulio Nicoletta – Partisan des Val Sagone

Giulio Nicoletta war Partisan in einer autonomen Einheit des Val Sagone in der Umgebung von Cumiana. Er verhandelte mit Anton Renninger über den Austausch der Soldaten, die die Partisanen gefangen genommen hatten, gegen die zivilen Geiseln der Deutschen …

Giulio Nicoletta: Ich stamme aus Kalabrien und wurde im Krieg zum Militärdienst eingezogen. Ab und an konnte ich nach Hause fahren, wo mein Onkel lebte, ein Sozialist. Wir diskutierten viel. Mein älterer Bruder, ein überzeugter Antifaschist, war mit der Finanzpolizei in Kroatien. Bei seiner Rückkehr schlug er sich zu mir nach Turin durch. Mein Bruder war überzeugt, dass das Land bald von Deutschen besetzt werden würde. Daraufhin fuhren wir in Zivil mit einem Lastwagen in Richtung Berge. Wir wussten, dass es dort Partisanen gab.

Welcher Einheit schlossen Sie sich an?

Nicoletta: Meine Einheit war autonom. Es gab auch einige kommunistische Formationen im Tal sowie katholische und monarchistische. Als ich später Kommandant all dieser Gruppen war, habe ich Wert darauf gelegt, dass alle zusammen arbeiteten.

Sie waren  damals in Cumiana als die Vergeltungsaktion der SS begann?

Nicoletta: Das deutsche Heer hatte Cumiana besetzt. Der Priester und der Arzt von Cumiana versuchten, über den Austausch der Geiseln zu verhandeln. Sie sind nach Forno di Coazzo gegangen, wo die Kommandozentrale der Partisanen war, und baten um den Austausch. Irgendwann war klar: Die eine Hälfte von uns ist dafür, die andere dagegen. Ich war einer der vielen Anführer kleiner Partisanengruppen, und wegen einer Verwundung war ich zu der Zeit in den Bergen. Mein Bruder bat mich, hinunter zu kommen. Er hatte die Befürchtung, dass in Cumiana großes Unheil geschehen könnte. In dieser unentschiedenen Situation stimmte ich also für den Austausch und hörte auf die Befürchtungen meines Bruders, der in Kroatien schreckliche Sachen gesehen hatte. Mein Votum war entscheidend. Damit war klar, dass ich mit den Deutschen verhandeln musste. Also bin ich mit dem Arzt und dem Priester nach Cumiana gegangen.
Ich traf dort jemanden, der sich als Renninger vorgestellt hat. Am Anfang war er sehr aufgebracht: “Die Partisanen haben angegriffen, wir haben darauf reagiert”, schrie er mehrmals. Ich sagte: “Sagen Sie mir, was wir tun müssen”. Daraufhin hat er sich ein bisschen beruhigt und mir mitgeteilt, dass bereits 51 Zivilisten erschossen worden waren. Angesichts dessen konnte ich natürlich nicht weiter verhandeln, sondern musste fragen, was nun geschehen sollte. Renninger teilte mir mit, dass er bis morgen eine Antwort erwarten würde.
Wir entschieden uns, die Gefangenen auszutauschen. Doch Renninger sagte mir am nächsten Morgen, ab jetzt sei General Hansen in Pinerolo zuständig. Zusammen mit dem Arzt und dem Pfarrer bin ich dorthin gegangen. Der General gab zu verstehen, dass er nichts mit dieser Sache zu tun haben wolle. Statt dessen sprach ich mit Alois Schmidt, Führer des Sicherheitsdienstes in Turin, der eigentliche Chef dieser Operation. Schließlich haben wir uns geeinigt: Wir geben die deutschen Gefangenen frei, und sie sollten die Truppen aus Cumiana abziehen.
Am nächsten Tag in Cumiana vergewisserte ich mich bei Renninger, ob die Vereinbarung  eingehalten werde. Auf mein Zeichen hin kam jemand mit den 30 Gefangenen, die wir austauschten.

Giulio Nicoletta September 2000    Giulio Nicoletta 1945

Giulio Nicoletta im September 2000 und am 6. Mai 1945 in Turin

Warum wurde der Lebensmitteltransport in Cumiana angegriffen?

Nicoletta: Die Partisanen sahen die Zone um Cumiana als befreites Gebiet an. Die Tragödie von Cumiana bedeutete, dass die Deutschen befreite Gebiete nicht mehr zulassen wollten.
Wir haben in dieser Zeit einige hundert Tote gehabt. Von da an war die Resistenza eine andere Sache. Man musste denen, die zu uns kamen, sagen: Schaut her, wir haben viele Tote gehabt. Wer trotzdem blieb, wusste, was auf ihn zukommen würde.
Wir wollten den Deutschen und den Faschisten zeigen, dass wir sie nicht mehr in Ruhe lassen würden. Es ging nicht um die Zerstörung des Feindes, sondern um Einschüchterung. Wir bildeten uns nicht ein, in Italien den Krieg beenden zu können, es war ja ein Weltkrieg.

War die Aktion gegen den Transport umstritten?

Nicoletta: Es gab eine Diskussion, ob der Angriff falsch war, aber die war nicht sehr heftig. Später war das Nationale Befreiungskomitee der Partisanen, der CLN, der Meinung, dass der Kampf nicht ohne einen Kommandanten für alle Gruppen weitergehen könne. Wir waren zwar nicht abhängig vom CLN, aber alle waren damit einverstanden. Zu meiner großen Überraschung wurde ich als Kommandant vorgeschlagen, weil ich damals Ausgewogenheit gezeigt hatte. Wir haben den Krieg fortgeführt. Es ging darum, Europa vom Nationalsozialismus und vom Faschismus zu befreien.

Haben Sie sich vom Prozess gegen Renninger etwas erwartet?

Nicoletta: Natürlich habe ich mir gewünscht, dass wenigstens formal Gerechtigkeit stattfände, und Renninger in Turin verurteilt würde. Der wahre Teufel aber war Schmidt, der den Befehl erteilt hatte. Renninger hat den Fehler begangen zu gehorchen, eine typisch deutsche Tradition.