„Wenn du keine Post bekommst, geht es mir prima“
M. E. – er möchte hier nur mit diesen Initialen genannt werden – war als junger Wehrmachtssoldat während des Krieges in Afrika und Italien. In seinem Kopf haben sich die Bilder der Soldaten und ZivilistInnen eingeprägt, die vor seinen Augen gestorben sind. „Aber viel schrecklicher waren die Erlebnisse, die ich zu Hause gesehen habe. Wie Hitler gesagt hat: Wir radieren. Aber dann haben die Engländer radiert.“
Was M. E. dazu bewegte zu desertieren, ist eine etwas längere Geschichte. Als Junge war er begeisterter Pfadfinder und wünschte sich ein abenteuerliches Leben. Seine Mutter war Sängerin mit Ausbildung bei einer italienischen Primadonna und zu Hause gaben sich KünstlerInnen aus vielen Ländern die Türklinke in die Hand. Den Sohn faszinierte besonders die Fliegerei. Als die Pfadfinder in Haan der Hitler-Jugend eingegliedert wurden, bildeten sie eine “Flieger-HJ“ und betrieben den Bau von Segelfliegern.
Eigentlich wollte M. E. Journalist werden, aber sein Vater zwang ihn zu einer kaufmännischen Ausbildung. Noch kurz vor Kriegsbeginn durfte er nach England reisen, lernte Marjorie, Billy und andere jungen EngländerInnen kennen und bekam dort einen Eindruck von Presse ohne allgegenwärtige Zensur.
Nach seinem Arbeitsdienst meldete er sich Ende 1940 freiwillig zur Fliegerausbildung nach Schleißheim. Bald plagten ihn Gewissensbisse, dass er vielleicht auf seine englischen Freunde schießen müsste. „Also gut, ich werde denen was husten. Ich mime Bauchschmerzen. Bei der Fliegerausbildung saß ja der Fluglehrer vorne, hinten saß der Schüler. Auf einmal kotzte ich dem hinten in den Kragen, und ab der Zeit war ich nicht mehr flugtauglich. Kann man ja verstehen, nicht?“ Danach erlebte der Flugschüler als Kradmelder den Rückzug der deutschen Truppen aus Nordafrika. Es folgte seine Versetzung nach Italien, er transportierte Lebensmittel, Waren und die Beute deutscher Offiziere von Süden nach Norden. Von seiner Mutter konnte er ein wenig italienisch.
Während er in Süditalien auf eine Fähre wartete, lernte er eine italienische Frau und im Anschluss ihre Familie kennen. Der Bruder bat ihn, jemanden in seinem Laster nach Rom mitzunehmen. „So kam ich über die Frau zu deren Bruder, der beim Widerstand war. Er brachte noch zwei andere mit, die sich unter den Apfelsinen versteckt haben.“
Das war seine erste Begegnung mit der Resistenza, die er nicht mehr genau zu datieren vermag – auf jeden Fall war es noch vor dem 8. September 1943. Während dieser Zeit kam er viel herum, marschierte bei verschiedenen Truppenteilen, zeitweise auch bei einer Propagandakompanie. Nach der Landung der Alliierten in Sizilien wurde er wegen seiner guten Sprachkenntnisse – „ich sprach englisch, ich sprach französisch, ich sprach italienisch“ – einem Kriegsgefangenenlager bei Anzio Nettuno als Dolmetscher zugeteilt. Nebenbei schmuggelte er auch Flüchtlinge aus dem Lager. Er brachte auch italienische Prostituierte zu den Deutschen. Sie sollten Soldaten und Offiziere davon abzuhalten, Frauen zu vergewaltigen. An diese Vorfälle erinnert sich M. E., der sich von seinen italienischen FreundInnen Alberto nennen ließ, noch sehr genau: Nachdem er durch Hilferufe geweckt wurde, stürmte er nur mit Uniformhose bekleidet auf die Straße: „A soccorso, also Hilfe, Hilfe! Deutsche Soldaten sind nach einem Saufgelage raus und haben Frauen gesucht, um sie zu vergewaltigen. Dann habe ich die Pistole genommen und in die Luft geschossen. Ich bin in ein Haus, wo ich einen, der sich neben eine Frau legen wollte, zurückriss und sagte: mein lieber Freund, raus hier! In diesem Moment wusste keiner wer ich war – meine Rangabzeichen konnte ich ja nicht auf der nackten Schulter anbringen. Dann habe ich sie alle rausgeschmissen.“
Bald darauf bekam er den Auftrag, Viehherden nach Norden zu treiben, die dann nach Deutschland transportiert werden sollten. Ihm wurden sechs oder sieben Italiener und ein Panjewagen zugeteilt. Auf dem Weg tauschten sie mit der Bevölkerung Vieh gegen Lebensmittel und Quartier. „Es kam vor, dass ich 120 Schafe hatte und zum Schluss kamen nur 80 an. Ja, was macht man bei einem Fliegerangriff, da laufen die Schafe halt weg.“ Aus Alberto und den Italienern wurde eine „verschworene Gemeinschaft“. Sie trugen sich mit dem Gedanken eine Widerstandsgruppe zu bilden. Einmal wurde die Gruppe Zeuge, wie deutsche SS-Einheiten eine Gruppe Frauen zu Schanzarbeiten nach Monte Cassino verschleppten. Einige Frauen starben, als sie von einem überfüllten Laster stürzten. Nur mit Mühe konnte Alberto seine Gefährten zurückhalten. „Wir wären alle erschossen worden, sie hatten Waffen und es kam Verstärkung.“
Im März 1944 erhielt Alberto einen Urlaubsschein, entschloss sich nach Hause zu fahren und verabredete sich mit den anderen für die Zeit nach seiner Rückkehr.
In Deutschland stand er vor Trümmerlandschaften, viele Freunde waren tot oder verschollen, fünf von sechs Tanten verbrannt. „Der Mutter habe ich gesagt: Mama, ich desertiere jetzt.“ Seine Mutter war sehr besorgt, weil sie nun wahrscheinlich nichts mehr über den Verbleib ihres Sohnes erfahren würde. „Wenn du keine Post mehr bekommst, geht es mir prima“, entgegnete M. E., „aber sobald du Post bekommst, ist das die Todesnachricht. Also freu dich, wenn du keine Post bekommst.“
Auf dem Rückweg nach Italien verließ er bereits kurz vor Rom den Zug und versteckte sich auf der Flucht vor einem Feldjäger in der Damentoilette. Dort bemerkte eine Frau den Deserteur, die ihn, da er sich als krank ausgab, in die Apotheke ihrer Tante brachte. Gegenüber seinen Beschützerinnen gab er sich als Franzose mit einer deutschen Mutter aus: Monsieur Bilancourt. Seine deutsche Uniform blieb in der Apotheke zurück, während der „Franzose“ nach Rom gebracht und in einer Stadtwohnung versteckt wurde.
Es begann eine Zeit des ständigen Verstecktseins. Als Deserteur war er seinem Umfeld wehrlos ausgeliefert. Er lebte in ständiger Ungewissheit über sein weiteres Schicksal.
Von der Apotheke holte ihn eine Fahrerin in einem Fiat mit zerschossenem Spiegel ab. Sie trug eine Pistole. Als sie wortlos mit ihm in einen abgelegenen Waldweg fuhr, ausstieg und hinter dem Wagen verschwand, befürchtete er, jetzt erschossen zu werden. Die Frau stieg jedoch wieder ins Auto, als ob nichts gewesen wäre. Beim Weiterfahren glaubte er aus dem Augenwinkel Monatsbinden liegen zu sehen.
Rom war zu diesem Zeitpunkt bereits „offene Stadt“, was er nicht wusste. Von seinen HelferInnen wurde er auf Herz und Nieren geprüft; so befragte ihn ein italienischer Widerstandskämpfer, der in der Fremdenlegion französisch gelernt hatte. Vor Aufregung vergaß der „Franzose“ seinen Namen und nannte sich „Boulanger“. Dennoch überstand er diese und andere rätselhafte Überprüfungen. Nach einer Zwischenstation in einem anderen Bauerndorf brachte ihn eine Frau namens Maria zu einer Partisanengruppe in der Nähe von Rom, die sich zum Teil aus ehemaligen Spanienkämpfern zusammensetzte. Als Alberto sich einem Hinterhalt gegen einen deutschen Konvoi beteiligen sollte, weigerte er sich – niemanden, egal auf welcher Seite, war er bereit zu töten. Die PartisanInnen drohten daraufhin, ihn als deutschen Spion hinzurichten und sperrten ihn in einen Schweinestall. Besagte Maria löste in der Nacht Bretter aus der Rückwand, brachte Brot, Käse und Wasser. Er hatte Fieber, sie wusste von seiner Gonorrhoe und Malaria. Ihr Vater war ein ranghoher Partisan. Heute denkt M. E., dass er wegen seiner Krankheit und Marias Hilfe seiner Hinrichtung entging. „Frauen haben eine große Rolle bei mir gespielt. Frauen habe ich mein Leben zu verdanken.“ Die Partisanen hätten auch seine Krankheit als Vorwand genommen, weil sie ihn gar nicht hinrichten wollten, da seine Haltung ihnen auch imponiert habe.
In der Apotheke holte er wieder seine Uniform. Mit einem Marschbefehl in der Tasche gelangte er in ein Lazarett für Soldaten mit Geschlechtskrankheiten am Gardasee. Dort, in Riva, freundete er sich mit einem deutschen Unteroffizier an, der Kontakt zur Stauffenberggruppe suchte. Seinen Aufenthalt im Lazarett konnte er als Mitglied des Kameradenkabaretts in die Länge ziehen. Im August jedoch erhielt er einen Marschbefehl nach Holland. Er setzte sich erneut von der Truppe ab und wollte sich einer Widerstandsgruppe anschließen, die ihm besagter Unteroffizier genannt hatte. Auf der Suche nach dieser Gruppe erhielt er bei Privatleuten Unterschlupf. In einem Taubenhaus in Den Haag wurde aus M. E., auch bekannt als Alberto, Egbert. Als deutsche Truppen dieses Stadtviertel durchkämmten, wurde Egbert auf der Flucht festgenommen. Da Deserteuren die Hinrichtung drohte, gab er sich diesmal für einen Italiener aus, der gemeinsam mit den Deutschen gegen die Engländer kämpfen wolle. Sehr schwierig sei es gewesen, auch bei malariabedingten Fieberanfällen kein deutsches Wort zu sprechen. Auf dem Weg zu einem Verhör gelang ihm später die Flucht. Bei einer christlichen Widerstandsgruppe konnte er bis Kriegsende unterschlüpfen. Aber das ist eine andere lange Geschichte.
Der spätere Reisejournalist erhielt keinerlei Entschädigung, weil er seine Geschichte nicht mit Dokumenten belegen konnte und seine ZeugInnen gestorben oder nicht aufzufinden waren. Aber er sieht das Ganze letztlich gelassen: „Ich habe das ja nicht getan, um Geld zu bekommen“.
Für Deserteure gab es nach dem Krieg kaum Anerkennung und positive Reaktionen. M. E. erinnert sich an ein Gespräch mit dem Pfarrer, den er als Kind sehr geschätzt hatte. Der Geistliche machte ihm nach dem Krieg Vorhaltungen, weil er desertiert war und seiner Mutter Sorgen bereitet hätte. Später fand er heraus, dass sein Pfarrer selber Offizier war – es entfährt ihm ein „Pfui Deibel“.
Matthias Brieger, Maike Dimar, Wolfgang Most
Das Gespräch mit M. E. fand im Januar 2003 statt.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.