„Sie haben sich nicht wie Menschen verhalten“

Enio Mancini führt durch die Ausstellung zu Sant’Anna

Erinnerungen des Überlebenden Enio Mancini aus Sant’Anna

„Ich war damals noch keine sieben Jahre alt, als das Massaker in Sant’Anna am 12.8.1944 stattfand. Unser kleines Dorf hatte zu dieser Zeit ca. 400 Einwohner. Es galt als relativ sicher im Gegensatz zu den Städten, die bombardiert wurden. …“

Enio Mancini: „Ich war damals noch keine sieben Jahre alt, als das Massaker in Sant’Anna am 12.8.1944 stattfand. Meine Erinnerung, die eines Kindes, habe ich aber mit der von anderen verglichen.

Unser kleines Dorf hatte zu dieser Zeit ca. 400 Einwohner. Es galt als relativ sicher im Gegensatz zu den Städten, die bombardiert wurden. Es kamen deshalb etwa 1.000 Flüchtlinge, die dort aufgenommen wurden; das Dorf war zu der Zeit nur über Bergpfade erreichbar. Die meisten Flüchtlinge kamen aus der Umgebung, aber auch z. B. aus Livorno, Genua und Neapel.

Gedenkstätte St. Anna di Stazzema  Gedenkstätte St. Anna di Stazzema    Gedenkstätte St. Anna di Stazzema   Gedenkstätte St. Anna di Stazzema   Gedenkstätte St. Anna di Stazzema   
Gedenkstätte St. Anna di Stazzema im Jahr 2021 (Vergrößern: auf die Bilder klicken)

Im Sommer 1944 war unsere Gegend, das Tal der Versilia, zu einem Schlachtfeld geworden. Die Alliierten waren bis nach Pisa und Livorno gekommen (23.7.1944). Die Küstenregion bei Pietrasanta wurde zum Stützpunkt der 16. SS-Panzergrenadierdivision unter Max Simon.
Seit Beginn des Jahres 1944 hielten sich Partisanen in der Region auf. Ihre Aktionen waren zunächst gegen die Vertreter der Mussolini-Regierung (RSI) gerichtet, die in diesem Sommer immer mehr an Bedeutung verloren. Die Wehrmacht und Waffen-SS bekamen zeitgleich stärkeren Einfluss. Die Angriffsziele der Partisanen änderten sich damit; es waren auch relativ viele Soldaten an der letzten Verteidigungslinie Gotenlinie, also in unserer Gegend mit der Verteidigung beschäftigt.
Ende Juli versuchte Divisionskommandeur Simon, der den Einsatz leitete, diese Partisanen zu umzingeln, um sie auszurotten. Sie kannten aber die Umgebung besser als die deutschen Truppen und zogen sich nach Süden in Richtung Lucca zurück.
Infolge dieses Rückzugs ging die Bevölkerung davon aus, dass die Zone um Sant’Anna sicherer war als zuvor, da der “Anreiz” für die Deutschen fehlte. Als Konsequenz kamen noch mehr Flüchtlinge in das Dorf.
In der Nacht zum 12.8.1944 machte sich gegen 3.00 Uhr das Bataillon mit dem Kommandanten Anton Galler (Waffen-SS) – das wissen wir erst seit den 90er Jahren – in Richtung Dorf auf; sie wurden von einigen italienischen Kollaborateuren aus der Region begleitet. Dies muss ich zu meinem großen Bedauern bemerken.
Es war also so: gegen 6.00 umzingelten vier Kolonnen das Dorf Sant’Anna. Von drei Seiten aus kamen sie über die nahen Berghänge. Von der vierten Seite her wurde die Dorfstraße abgesperrt, um die Flucht zu verhindern.
Als sie die Berggipfel erreicht hatten, schossen sie Leuchtraketen ab um sich gegenseitig Signale zu geben. Dies wurde im Dorf bemerkt. Die Männer gingen davon aus, es würden wie üblich wieder Zwangsarbeiter rekrutiert. Sie verschwanden in die nahen Wälder. Es blieben also Frauen, Kinder und Ältere zurück, die dachten, für sie bestünde keine Gefahr.
Um 6.30 morgens begann das Massaker. Drei der vier Kolonnen haben jeden getötet, den sie antrafen. Es wurde überall getötet, in den Häusern, in den Ställen, auch auf dem Kirchplatz. Gegen 9.30 war alles vorbei, es blieben ca. 560 Tote zurück. Es wurden fast alle Häuser zerstört, auch die landwirtschaftlichen Gebäude niedergebrannt, die Tiere getötet. So sah die Strategie der “verbrannten Erde” des General Kesselring aus. Dies war die Arbeit der drei Kolonnen. Ich hatte das Glück, dass die vierte Kolonne mit unserer Gruppe, die aus etwa 100 Menschen bestand, anders umging.
Ich berichte nun aus meinen eigenen Erinnerungen. Die italienischen Faschisten, die maskiert waren, führten die deutschen Soldaten etwa gegen 6.30 Uhr ins Dorf. Um uns einzuschüchtern, haben sie um sich geschossen. Wir hatten uns eingeschlossen. Wenn man die Tür nicht aufmachte, wurde diese aufgebrochen. Es kamen 4 bis 5 Soldaten in jedes Haus, bis oben hin bewaffnet, mit Flammenwerfern ausgerüstet, um anschließend die Häuser niederzubrennen.
Einige Soldaten durchsuchten die Häuser, andere trieben die Menschen auf dem Platz zusammen. Unsere Leute wurden gegen die Hauswand gestellt, etwa zehn Minuten mussten wir stehen. Vor uns waren Maschinengewehre aufgestellt. Wir dachten, das ist das Ende. Zu unserer völligen Überraschung befahl uns aber ein Offizier, “Raus, schnell – Valdicastello”. Wir konnten dies zunächst nicht verstehen, aber die ital. Faschisten übersetzten, wir sollten verschwinden.
Während wir in kleinen Gruppen in Richtung Valdicastello zu entkommen versuchten, sahen wir zurück, und konnten erkennen, dass die Häuser, auch unseres, angezündet wurden. Meine Familie – die Frauen – entschieden, nachdem sie an unserem Haus vorbeikamen, nicht nach Valdicastello zu gehen, sondern sich in der Nähe, im Wald zu verstecken. Unser Gedanke war, so schnell wie möglich zum Haus zurück zu gelangen, um dann noch retten zu können, was zu retten war. Etwa 150 Meter entfernt versteckten wir uns im Kastanienwald, um die Kuh zu retten. Die Milch der Kuh sicherte unser Überleben. Nach einer halben Stunde oder auch etwas länger hörten wir deutsche Stimmen im Wald, die näher kamen. Eine Patrouille fand uns, es waren etwa 7 bis 8 Soldaten; wir wurden von ihnen in Richtung Kirchplatz getrieben, die Hälfte vorne, die anderen dahinter. Wir sollten schnell gehen, das konnten wir aber nicht, wir waren barfuß im Wald, und mit uns Kindern ging es nicht so schnell.
Die Patrouille hatte einen festen Zeitplan, den sie einhalten wollte. Die Soldaten gingen also voraus, ließen aber einen jungen Deutschen von ca. 17 oder 18 Jahren bei uns, so etwa schätzten unsere Frauen das Alter des Mannes.
Als die anderen verschwunden waren, sagte dieser etwas zu uns auf deutsch, wir verstanden jedoch nichts. Seine Gesten gaben uns zu verstehen, dass wir ruhig sein und uns entfernen sollten. Wir kehrten also um, liefen aufwärts, und hinter uns hörten wir Salven aus einer Maschinenpistole. Erst dachten wir, er schießt auf uns. Dann aber sahen wir, dass er in die Luft schoss. Wir verstanden, dass dieser junge Mann uns das Leben gerettet hat.
Wir haben aus dem Tal viele Schüsse gehört, konnten jedoch das ganze Ausmaß der Tragödie noch nicht erkennen, da wir auch dachten, es gebe mehrere solcher Verhaltensweisen wie bei uns. Der Einsturz brennender Häuser und viele Schüsse waren zu hören. Wir wollten jedoch so schnell wie möglich zurück, um zu wissen, was mit unserem Haus geschehen war. Von ca. 10 Uhr bis gegen 4 Uhr nachmittags haben wir gearbeitet, um dort unser Hab und Gut zu retten. Wir trafen dann andere Leute, die sich frühmorgens in die Wälder geschlagen hatten. Sie berichteten uns, was im Dorf vorgefallen war. Wir gingen zu den Häusern unserer Verwandten, ich lief hinter meiner Mutter und Großmutter zuerst zum Haus der Familie Pieri.

Ich habe noch heute Schwierigkeiten zu beschreiben, was ich dort sah. Ich sah im Haus verbrannte Menschen, der Geruch von verbranntem Fleisch war extrem. Auch die Menschen, die auf offener Straße getötet wurden, waren nachträglich mit Stroh, Holz oder Flammenwerfern angezündet worden. Es waren viele Frauen, die dort nackt lagen, und vermutlich zuvor vergewaltigt worden waren.
Ein Beispiel, das der Rabbi Elio Duaff, Ober-Rabbi von Rom mir berichtet hat, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Er hielt sich wie die anderen Männer im Wald versteckt, und als sie dachten, dass alles vorbei wäre, kam er am späten Nachmittag zu den Häusern. Auf dem Kirchplatz sah er einen großen Haufen toter Körper, die erschossen und angezündet worden waren.
Die schrecklichste Erinnerung war für ihn, wie er in einem Haus eine junge Frau bemerkte, die noch lebend aussah. Sie sollte gerade an diesem Tag ihr Kind gebären, die Wehen hatten begonnen. Er ging zur Tür, die angelehnt war, um mit ihr zu sprechen.
Aber die Frau lebte nicht mehr. Ihr war der Bauch aufgeschlitzt worden. Das noch nicht geborene Kind lag auf dem Küchentisch, noch mit der Nabelschnur verbunden, noch mal extra mit der Maschinenpistole erschossen. Seitdem war Duaff nie wieder in Sant’Anna gewesen.

Ich möchte das hier nicht ausweiten. Ich bitte um Entschuldigung, diese Grausamkeiten hier berichtet zu haben. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen: Es waren wohl Menschen, die hier am Werk waren. Sie haben sich jedoch nicht wie Menschen verhalten.“

Literaturhinweis:

Gabriele Heinecke, Christiane Kohl und Maren Westermann (Hrsg.)
Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema
Mit den Erinnerungen von Enio Mancini