„Das Bataillon Lucetti ist libertär und sonst nichts …“
Der Friedhof Turigliano in Carrara ist die letzte Ruhestätte der Anarchisten geworden. Anfangs war dort nur das Grab des Mussolini-Attentäters Gino Lucetti. Als sein Genosse später eines natürlichen Todes starb, wollte er an Lucettis Seite beigesetzt werden. So haben sich hier im Laufe der Zeit Persönlichkeiten der anarchistischen Bewegung eingefunden. Beispielsweise Giuseppe Pinelli, der sich als Jugendlicher der Resistenza anschloss und Anfang der sechziger Jahre die Gruppe Sacco und Vanzetti ins Leben rief. Deren Lokal war der erste Treffpunkt der Mailänder AnarchistInnen. 1969 kam Pinelli ums Leben, als er während eines Verhörs aus dem vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums „fiel“. Die Polizei suchte die Verantwortlichen für das Massaker der Piazza Fontana, das sich später als Werk der Faschisten herausstellte, zielsicher im linken Spektrum und beschuldigte Pinelli. Dario Fo widmete seine weltbekannte Farce diesem
„zufälligen Tod eines Anarchisten“.
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Alfonso Nicolazzi vor der Druckerei im Jahre 2004.
Die Fassade der Druckerei-Kooperative ist bunt bebildert.
Nach den Protesten in Genua brachten KünstlerInnen aus der Ukraine, Sardinen, Großbritannien, Polen und Deutschland die Fresken an: Der Transport der Marmorblöcke, eine Kooperative usw. – Facetten der kommunalen Arbeitskultur.
Carrara liegt nordwestlich von Pisa in den Apuanischen Alpen und ist weltweit bekannt als „Stadt des Marmors“. Die Geschichte der Stadt ist maßgeblich von den harten Arbeitsbedingungen beim Abbau des kostbaren Steins geprägt. Bereits die Sklavenarbeiter Roms mussten die Marmorblöcke aus dem Fels brechen. Sie trieben dazu aufquellende, mit Wasser übergossene Holzkeile in mühsam geschlagene Schlitze. Im 18. Jahrhundert wurde der Abbau unkontrolliert und wenig effektiv mit Schwarzpulver betrieben. Unter den Großgrundbesitzern im 19. Jahrhundert sägten die Arbeiter mit der Hand ein paar Zentimeter pro Tag. Besonders der Abtransport der großen Blöcke war eine halsbrecherische Angelegenheit: Auf eingeseiften Holzstämmen rollend, die immer wieder vorne untergelegt wurden, ließ man die großen Quader mit Seilen den Hang hinabrutschen. Dabei wurden immer wieder Arbeiter durch rutschende Marmorblöcke regelrecht zerquetscht. Heute werden die Blöcke mit Diamantdraht geschnitten und auf großen LKWs in engen Serpentinen hinab gefahren.
Neben den Gräbern auf dem Friedhof finden sich in Carrara noch weitere Spuren von Anarchisten. An der Piazza Gramsci erinnert ein Denkmal an den Anarchisten Alberto Meschi (1879-1958), der 1905 nach Argentinien auswanderte und dort einer der Anführer der libertären und gewerkschaftlichen Bewegung wurde. Vier Jahre später wurde er ausgewiesen und kehrte nach Italien zurück. In Carrara begleitete er als Gewerkschafter die Arbeitskämpfe in den Marmorsteinbrüchen. Anfang der 20er Jahre floh er nach mehreren Übergriffen der Faschisten nach Frankreich. In Paris gründete er mit anderen die antifaschistische Sammelbewegung und die italienische Liga für die Menschenrechte. Für die spanische Republik kämpfte er in der Kolonne Rosselli. Wieder in Frankreich wurde er bis zum Ende des Jahres 1943 interniert. Zurück in Italien leitete er in Carrara nach der Befreiung den Gewerkschaftsbund und gab das libertäre Gewerkschaftsblatt „Der Mamorarbeiter“ heraus.
Gogliardo Fiaschi (mit Fahne) beim Einmarsch in Modena Denkmal für den Anarchisten Alberto Meschi
Das Denkmal ist eine der Stationen, zu denen Alfonso Nicolazzi BesucherInnen von Carrara auf seinen Rundgängen zur Geschichte des Widerstands geführt hat. Bis zu seinem Tod am 24. September 2005 war Nicolazzi auch außerhalb Italiens eine bekannte Persönlichkeit der anarchistischen Bewegung und in der Internationale der Anarchistischen Föderationen (IAF) aktiv. Vor Ort organisierte er sich in der „Federazione Anarchica Italiana“ (FAI). Anfang der 70er Jahre schmiss er seinen Beruf als Fluglotse bei AlItalia. Mit der Abfindung baute er ein neues Projekt auf: „Nach der 68er Bewegung waren wir voll von Enthusiasmus. In Italien gab es keinen Ort, wo die anarchistische Bewegung sich entsprechend organisieren und ausdrücken konnte. Also haben wir angefangen diese Druckerei zu gründen“. Viele Leute haben im Laufe der Zeit im Druckkollektiv mitgearbeitet. Nicolazzi blieb bis zum Schluss und arbeitete die letzten 30 Jahre für die wöchentlichen FAI-Zeitung „Umanità Nova“. Nun liegt auch er in Turigliano. Es war eine große Beerdigung mit vielen Leuten.
Eineinhalb Jahre vor seinem Tod trafen wir ihn zum Auftakt eines Stadtrundgangs im „Circolo Culturale Anarchico Gogliardo Fiaschi“, benannt nach dem jüngsten Partisan von Carrara. Im Alter von 13 Jahren, er frisierte seine Dokumente auf 15, schloss sich Gogliardo Fiaschi im September 1943 dem Widerstand an. Mitten im darauf folgenden Winter begab er sich auf den Weg durch die deutsche Gotenlinie zu den Alliierten an der Seravezza-Front, die ihre Offensive bis April aufgeschoben hatten. Trotz der ständigen Gefahr von allen Seiten, der deutschen Besatzungsmacht, den italienischen Faschisten und den alliierten Luftangriffen, schaffte es Fiaschi nach Seravezza. Als im April die Offensive gegen die deutschen Stellungen wieder anlief, marschierte er schließlich mit der PartisanInnendivision „Modena“ in die Stadt am südlichen Rand der Poebene ein.
Nach der Erstürmung der Gotenlinie in den Alpi Apuane: Gruppenbild mit US-Soldaten.
Die US-Armee setzte vor allem Migranten in vorderster Front ein - hier "japanische" GI’s.
Die meisten anarchistischen PartisanInnen Italiens organisierten sich in gemischten Einheiten, den „Giustizia e libertá“- , „Matteotti“ oder „autonomen“ Formationen und auch den kommunistischen „Garibaldi“. In der Gegend von Carrara operierten fast ausschließlich anarchistische Gruppen. Die zahlenmäßig stärkste, in die sich auch Fiaschi zuerst eingereiht hatte, nannte sich nach Gino Lucetti. „Von den Bergen Sarzanas werden wir eines Tages hinabsteigen – aufgepasst Partisanen des Bataillon Lucetti. Das Bataillon Lucetti ist libertär und sonst nichts …“, lautet der Refrain eines Liedes, das noch heute gesungen wird – zumindest im Circolo Anarchico Gragnana. Auch dieses Lokal, etwas außerhalb von Carrara gelegen, ist seit 1945 ein anarchistischer Treffpunkt. Früher köchelte hier eine Volksküche, eingerichtet im Jahr 1913 während einer Aussperrung der Marmorarbeiter. Jemand erzählte dort von der Kampfgruppe „Elio“, die bei einem Kampf bei Torrione 82 Deutsche gefangen nehmen und gegen Partisanen austauschen konnte. „Aliberti“, „Pelliccia“ und „Schirru“ nannten sich die anderen anarchistischen Formationen, die in der Gegend aktiv waren.
Alfonso Nizolazzi hisst die schwarz-rote Fahne.
In diesem Ende des 19 Jahrhunderts errichteten Theatergebäude ist seit 1945 eines der beiden Zentren der F.A.I. in Carrara. 1989 wurde es ein Jahr lang von AnarchistInnen besetzt, um einen Rausschmiss der F.A.I. und eine Umwandlung in private Büroräume zu verhindern. Bisher konnte die F.A.I. ihr „historisches Recht“ behaupten, im Haus zu bleiben – wohl auch weil sie alte Dokumente auftreiben konnte, wonach das Theater damals ohne entsprechende Baugenehmigung auf gemeindeeigenen Grund errichtet wurde.
Nach dem Faschismus schlossen sich Italiens AnarchistInnen in der FAI zusammen. Die Föderation gab rund fünfzehn Zeitschriften heraus, hatte ihren größten Einfluss in Mailand und Genua, doch Carrara wurde zu ihrem Zentrum. Anarchistische Kooperativen bewältigten das alltägliche Überleben, besorgten Nahrungsmittel und kümmerten sich um Arbeit. Die Infrastruktur war durch den Krieg zerstört – Trümmer und Minen mussten geräumt und alles wieder aufgebaut werden. Die Marmorbrüche waren geschlossen und die meisten arbeitslos.
Nach der Befreiung kehrte Gogliardo Fiaschi in die Steinbrüche der Marmorstadt zurück – wo er seit seinem achten Lebensjahr hatte arbeiten müssen. In den 50er Jahre beschloss er gemeinsam mit dem spanischen Anarchisten José Lluis Facerías den bewaffneten Kampf gegen das Franco-Regime aufzunehmen. Facerías hielt sich seit seiner Flucht aus einem Franco-Gefängnis 1945 illegal in Carrara auf. Mit dem Fahrrad überquerten sie 1957 die Pyrenäen, flogen jedoch nach kurzer Zeit auf. Facerías wurde in Barcelona von der Guardia Civile in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Fiaschi wurde verhaftet, gefoltert und von einem Militärgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. 1966 wurde er nach einer Amnestie entlassen – und nach seiner Rückkehr in Italien gleich wieder eingesperrt. Ein Gericht hatte ihn in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis wegen Bankraub verurteilt, den er mit Facerías begangen haben soll. Eine internationale Kampagne forderte seine Freilassung. Im März 1974 kam er schließlich frei.
Fiaschi starb am 29. Juli 2000. Seinen Trauerzug durch die Stadt begleiteten AnarchistInnen aus ganz Italien. Beigesetzt wurde er standesgemäß neben Lucetti und Pinelli. Am gleichen Tag vor hundert Jahren hatte der Anarchist Gaetano Bresci den italienischen König Umberto I. umgebracht. Auch an den Königsmörder erinnert ein Denkmal beim Friedhof.
Wolfgang Most
„Wir werden die Stadt nicht verlassen“ – Aufstand der Frauen von Carrara