Die abenteuerliche Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs
Als Walter B. Stalingrad nur mit Glück überlebt, immer mehr die Sinnlosigkeit des Krieges und die Schreckensseiten des NS-Regimes erkennt, fasst der Obergefreite der Wehrmacht 1943 in Italien den folgenschweren Entschluss, zu desertieren. Über eineinhalb Jahre ist er bis Kriegsende auf der Flucht, gejagt von Feldjägern und der Gestapo …
Jahrelang ist Walter B. ein „guter und treuer Soldat“. Doch als er die “Hölle von Stalingrad“ nur mit Glück überlebt, immer mehr die Sinnlosigkeit des Krieges und die Schreckensseiten des NS-Regimes erkennt, fasst der Obergefreite der Wehrmacht 1943 in Italien den folgenschweren Entschluss, zu desertieren – obwohl ihn das den Kopf kosten kann. Über eineinhalb Jahre ist er bis Kriegsende auf der Flucht, zunächst in Florenz, später in Berlin, gejagt von Feldjägern und der Gestapo. Eine Biographie, die zwischen 1933 und 1945 markante Ereignisse in Hitler-Deutschland unmittelbar kreuzt; die von Anpassung, Verweigerung und dem Kampf ums Überleben handelt. Eine Geschichte, die durch eine umfangreiche Fahndungakte von Wehrmachts- und Gestapo-Stellen (erhalten im Bundesarchiv) ausführlich dokumentiert ist und die der Protagonist nie öffentlich gemacht hat.
Die abenteuerliche Desertionsgeschichte von Walter B. erzählt auch über eine große Liebe in Italien in Zeiten des Krieges, der Liebe zwischen einem deutschen Deserteur und seiner italienischen Feundin. Der Krieg führte die beiden zusammen und riss sie abrupt wieder auseinander.
Walter B. wird 1915 geboren, im zweiten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs. Seinen Vater lernt er nie kennen, er fällt wenige Tage vor Walters Geburt an der West-Front. Die Mutter zieht darauf mit ihren 5 Kindern aus der Gegend von Hannover nach Berlin. Hier wächst Walter auf.
Walter macht eine Lehre als Elektriker, danach wird er arbeitslos. Aber der 19jährige will nicht länger ohne Beschäftigung sein und meldet sich deshalb 1934 freiwillig zur Wehrmacht. Zwar gäbe es in Deutschland noch keine Wehrpflicht – hatte man ihm gesagt – aber sie werde bald eingeführt. Walter will deshalb einer späteren Einberufung vorgreifen und die Zeit der Arbeitslosigkeit nutzen.
Noch ist Deutschland an die Auflagen des Versailler Vertrages gebunden. Danach darf die deutsche Armee nur eine maximale Stärke von 100.000 Mann haben. Insgeheim jedoch rüstet man bereits kräftig auf, wie auch Walter erleben muß. Er wird zu einer Nachrichtenabteilung in Potsdam eingezogen. Um deren Existenz vor ausländischen Beobachtern zu verschleiern, trägt sie einen Tarnnamen. Erst ein Jahr später – nach Einführung der Wehrpflicht – darf seine Abteilung auch offiziell existieren und wird von nun an als Heeresteil geführt. Walter lernt das „Strippenziehen“, muss Nachrichtenverbindungen im Feld herstellen.
1936 beginnen in Berlin die Olympischen Sommerspiele – die willkommene Gelegenheit für die Nazis, der Weltöffentlichkeit ein positives Bild von Deutschland vorzuspielen. Auch Walters Einheit ist im Einsatz. Sie ist für den technischen Ablauf der Spiele eingeteilt. Walter verlegt Leitungen für die Radioübertragung. Im hinteren Stadionbereich erlebt dabei mehrere Auftritte von Adolf Hitler.
Später arbeitet Walter als Schreiber im Regimentsstab und erstellt Mobilmachungspläne. Die Wehrmacht möchte den verläßlichen Soldaten länger an sich binden und auf 10 Jahre verpflichten. Doch ihm ist sein Zivil lieber. 1937 nimmt er bei Siemens eine Anstellung als Elektriker an. Siemens – damals maßgeblich an allen Unternehmungen und Neubauten der Nazis für ein „neues Berlin“ beteiligt – setzt ihn auf Montagen ein, u.a. bei den IG-Farben-Werken, schließlich in der Reichskanzlei. Walter avanciert zum bauleitenden Monteur. Mit einem 20 Leute umfassenden Montagetrupp ist er verantwortlich für die Elektrik des marmornen Mosaiksaals, dem Empfangsbereich der Reichskanzlei. Im schwarzen Anzug hält er bei Empfängen „Lichtwache“: “Immer dann, wenn Hitler in die Reichskanzlei kam, gab es Freibier für die Arbeiter“ – erzählt Walter. Dies ist allerdings das einzige positive Erlebnis, das er mit dem “Führer des großdeutschen Reiches“ verbindet. Ansonsten hinterlassen die mehrmaligen Zusammentreffen mit Hitler bei ihm nicht sonderlich viel Eindruck.
In der Folgezeit lernt Walter weitere NS-Größen kennen, kann einen Blick hinter die Fassaden des Regimes werfen. Als Monteur arbeitet er in den Privathäusern von Goebbels, Heß, Ribbentrop und Göring,. Er sieht den Luxus in den Häusern der Nazi-Oberen, die vergoldeten Armaturen in Goebbels Badezimmer. Anfänglich hat er großen Respekt vor den Staatsführern, doch als er in der privaten Umgebung ihre „Macken“ kennenlernt, ist er mehr und mehr befremdet. Walter berichtet z.B. von Görings Leidenschaft für seine Spielzeugeisenbahn. Sie war in seinem verbunkertem Privathaus in Karin Hall aufgebaut, in einem überdimensionalen Oval von ca. 12 Metern Durchmesser. Siemens hatte dafür eigens einen Elektriker abgestellt, der die Anlage warten musste. Über ein Schaltpult konnte der Reichsfeldmarschall seine gesamte Spielzeugwelt bedienen. Er saß in einem wuchtigen Ledersessel und spielte Krieg. Der Clou: Per Knopfdruck ließ er aus Miniaturflugzeugen Spielzeugbomben auf die Modelleisenbahn fallen.
August 1939: Walter wird eingezogen. Seit seiner Entlassung aus der Truppe war er Reservist. Hitler plant den Überfall auf Polen. „Wir wußten alle, dass es zum Krieg mit Polen kommen würde“ – erzählt Walter. Zwei Wochen ist er an der deutsch-polnischen Grenze stationiert. Am 1. September beginnt der Überfall auf Polen. Wie alle in seiner Truppe glaubt auch Walter der deutschen Kriegspropaganda, Polen habe deutsches Reichsgebiet angegriffen. Walters Einheit arbeit im „Stangenbau“, muss Masten setzen für die Nachrichtenübermittlung. Bis Weihnachten 1939 bleibt er in der Nähe von Warschau. Er erlebt, wie deutsche Soldaten Geschäfte plündern. Die Feldjäger („Kettenhunde“ genannt) schauen wohlwollend zu und bekommen dafür ihren Anteil von der Beute ab. Walter quartiert sich bei einer polnischen Familie ein. Er versorgt sie mit Kohlen und Lebensmitteln, freundet sich mit der Tochter des Hauses an. Als seine Einheit schließlich verlegt wird, kommt es zu schmerzlichen Abschiedsszenen.
Zum Jahreswechsel 1939/40 ist Walter wieder in Berlin. Er wird vom Kriegsdienst freigestellt, denn Siemens hat ihn für unabkömmlich erklären lassen. Knapp ein Jahr ist er auf dem Heinckel-Flugplatz in Berlin-Johannisthal beschäftigt, verlegt Kabel in Flugzeughallen und arbeitet im Flugzeugbau. Unter den Arbeitskollegen – so sagt er – gab es wenige, die glaubten, der Krieg sei zu gewinnen. „Aber niemand hat sich vorstellen können, dass er mal so grausam werden wird“.
Im Januar ´42 wird Walter erneut eingezogen, diesmal zur Infanterie. Selbst die Eingaben von Siemens bleiben erfolglos. Im Eiltempo geht es nach Waysma bei Moskau, weiter nach Shaks. Hier erlebt er zum ersten Mal die blutigen Seiten des Krieges. Im Bombenhagel russischer Flieger versuchen sie den Transportzug zu verlassen. Von den 20 Kameraden seiner Einheit, alles erfahrene Soldaten, überleben nur zwölf die erste Feindberührung. Mit Gewaltmärschen geht es im September ’42 über Orel, Woronesch und Kalatsch nach Stalingrad. Ende Oktober kommt Walter wegen einer Kiefervereiterung ins dortige Lazarett, liegt unter lauter Schwerverletzten. Nach zehn Tagen kann er ihre Schreie nicht mehr ertragen. Er macht sich aus dem Lazarett auf und schlägt sich zu seiner Einheit durch. Gefährliche Militäreinsätze folgen, die er mit viel Glück überlebt. Nach zwei Wochen schickt man ihn erst einmal auf Heimaturlaub, um die Auswirkungen seiner Kiefervereiterung zu kurieren. Aber mittlerweile toben schwere Kämpfe um Stalingrad. Walter gehört zu den letzten, die Stalingrad vor der Einkesselung durch russische Verbände noch verlassen können. Seine Einheit wird dort später komplett aufgerieben.
Stalingrad wird für Walter zum Schlüsselerlebnis. Er denkt zum ersten Mal an Desertion. Beim Heimaturlaub in Berlin gibt es lange Gespräche mit seinen Brüdern und seinem Schwager. Sie suchen nach einer Möglichkeit, den Krieg für Walter zu beenden, finden aber keinen Ausweg. Nach zwei Wochen in Berlin geht es zurück an die Ost-Front. Der Kessel von Stalingrad wird immer kleiner und die Siegeseuphorie unter den Kameraden ist längst dahin. Pläne für die Fahnenflucht muss Walter jedoch allein schmieden, offen darüber zu reden, kann den Kopf kosten. Nach langer Fahrt erreicht er einen Sammelpunkt der Wehrmacht vor dem Kessel. Der Komandostab will Verbände über eine Luftbrücke hineinfliegen. Das Vorhaben scheitert jedoch, da eine Luftbrücke wegen des russischen Beschusses nicht mehr möglich ist. Es ist Ende Dezember 1942.
Aus den wenigen Soldaten, die aus Stalingrad hinauskamen, werden neue Verbände zusammengestellt. Walter wird nach Frankreich verlegt, an den Golf von Biskaja – eine kurze Ruhepause für die „Kämpfer von Stalingrad“ – wie man sie nennt. Stalingrad ist inzwischen gefallen. In Frankreich wird Walters Verband nun aufgefrischt mit neuen Soldaten.
Akte Fahnenflucht Vergrößern: auf die Bilder klicken
Im Sommer ´43 werden sie zur Unterstützung des zusammengebrochenen Mussolini-Regimes nach Italien verlegt. Es geht die Westküste hinunter bis zum Lago di Bolsena. Acht Tage liegen sie an der Nord-Seite des Bolsener Sees, dann wird Walter Mitte August mit einem kleinen Kommando aus seiner Einheit nach Paris geschickt. Sie sollen LKW-Ersatzteile besorgen. Da die Teile jedoch nicht am Lager sind, kehren die Soldaten nach Italien zurück. Nur Walter bleibt in Paris, soll später mit den Ersatzteilen nachkommen. Einige Tage bleibt er in Paris, dann macht auch er sich auf den Weg nach Italien. Unterwegs trifft er einen Kameraden aus seiner Einheit, Walter J., der ebenfalls aus Berlin stammt. Walter B. und Walter J. freunden sich an. Beide wollen den Krieg nicht länger mitmachen und erkennen eine lang erhoffte Chance, sich von der Truppe abzusetzen. Sie bummeln auf der Rückreise zu ihrer Einheit, verzögern absichtlich die Fahrt und nutzen geschickt die Unübersichtlichkeit der zusammenbrechenden Front. Mit immer neuen Marschbefehlen reisen sie umher, geben vor, ihre Einheit zu suchen. Die beiden schaffen es sogar, einige Tage in Berlin und Frankfurt/Oder zu verbringen. Erst später geht es wieder zurück nach Italien, nach Florenz. In einem kleinen Restaurant lernen sie zwei junge Italienerinnen kennen. Giulia arbeitet dort häufig als Bedienung, Franca ist ihre Freundin. In den folgenden Tagen treffen sich die vier regelmäßig.
Walter B. und Walter J. beschließen, zu desertieren. Ihre italienischen Freundinnen wollen dabei helfen. Die beiden Obergefreiten haben längst den Abmarsch ihrer Treppe versäumt. Sie tauchen in Florenz unter. Ohne Geld und Verpflegung durch die Truppe müssen sie nun ihr Überleben im Verborgenen organisieren. Die Not macht erfinderisch, und die beiden erweisen sich als sehr geschäftstüchtig.
Freunde aus dem italienischen Widerstand geben einen heißen Tipp: auf dem Bahnhof stünden Waggons, voll beladen mit Socken für die Wehrmacht. Die beiden kundschaften aus, wann die Wachposten Streife laufen, organisieren einen LKW, Fahrer und zwei Hilfsarbeiter. In ihren Uniformen fahren sie nachts vor. Die Streife hält sie für Wachposten, und so können sie die großen Ballen mit insgesamt 4.000 Wollsocken auf den LKW laden und abfahren. Sie verkaufen die gesamte Ladung an die Besitzerin des Hotels, in dem sie wohnen. Aber die Gestapo kommt dem Coup der geklauten Socken auf die Spur. Zwei Hotelgäste werden wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verhaftet.
Festung Fortezza da Basso
Akte Fortezza
Mit dem Geld aus dem lukrativen Sockendeal kommen die beiden Deserteure fürs Erste über die Runden und kaufen sich Zivilkleider. Einige Wochen lang können sie in Florenz unbeschadet untertauchen. Aber Mitte Dezember `43 wird Walter J. bei einer Kontrolle durch Feldjäger festgenommen. Zwei Wochen später geht ihnen auch Walter B. ins Netz. Man sperrt sie ins Fortezza da Basso, einer gewaltigen Festung, die mitten Florenz liegt und als Militärgefängnis dient. Mehrere Wochen verbringen die beiden Deserteure in Einzelhaft, nur unterbrochen durch stundenlange Verhöre der Gestapo. Mit der Zeit bekommen sie freundschaftlichen Kontakt zu einigen Italienern, die im Gefängnis für Hilfsarbeiten abgestellt sind. Mit ihrer Hilfe können sie Kassiber untereinander austauschen und sogar Kontakt zu den Freundinnen in der Stadt halten. Walter B und Walter J. schmieden Ausbruchspläne, prüfen die Möglichkeiten zu fliehen. Giulia signalisiert Unterstützung für den Fall einer erfolgreichen Flucht. Ein direkter Ausbruch aus der Festung ist jedoch unmöglich. Deshalb ersinnen die beiden einen besonderen Plan. Sie wissen, dass es im Gefängnis keinen Zahnarzt gibt. Die Gefangenen werden deshalb zur Behandlung in die Stadt gebracht. Beide simulieren Zahnschmerzen. Es gelingt ihnen, in den selben Gefangenentransport zu kommen. Auf dem Weg durch Florenz können sie an einer verabredeten Stelle fliehen. Sie beschließen, dass sich von nun an jeder allein durchschlagen soll. Über Mittelsleute wollen sie Verbindung zueinander halten.
Walter B. versteckt sich zunächst in einem Kloster. Die Nonnen geben ihm zu essen und benachrichtigen seine italienischen Freunde. Die verstecken ihn für einige Tage in der Wohnung von Ernesto, dem Besitzer des Restaurants. Danach taucht er für längere Zeit bei Giulia unter. Walter und Giulia sind mittlerweile ein Paar. Sie färbt ihm die Haare schwarz und besorgt ihm Zivilkleider. Gedeckt durch Giulia und Freunde aus dem italienischen Widerstand kann sich Walter in Florenz verborgen halten. Die Italiener riskieren viel, um sein Leben zu retten. „Kaum ein Deutscher hätte für mich getan, was die italienischen Freunde für mich getan haben“ – so Walter. Auf die Straße traut Walter sich nun aber nicht mehr, denn mittlerweile wird nach ihm gefahndet. Nur in dem kleinem Zimmer von Giulia fühlt er sich noch sicher. Für Walter beginnt eine lange Zeit des Wartens. Auf Dauer wird es jedoch auch in Giulias Unterkunft für ihn zu gefährlich. Quartierswechsel werden notwendig. Nur im Dunkeln wagt er sich mit Giulia auf die Straße. Sie hakt sich bei ihm unter, und so spazieren beide wie ein altes Ehepaar durch die Straßen.
Wochen vergehen. Eingeschlossen in seinen Verstecken, verbringt Walter die Zeit damit, italienisch zu lernen. Er hört das deutschsprachige Programm der BBC und gibt die Informationen an die Italiener weiter. Auf einer Wandkarte notiert er minutiös die von Süden vorrückende Front und debattiert mit den italienischen Freunden über die Kriegsereignisse. Walter hofft, dass der Krieg bald zu Ende gehen wird – aber der dauert immer länger.
Ernesto aus dem Restaurant hat Verbindung zu Partisanen und will wissen, ob Walter bereit sei, für sie zu kämpfen. Walter bejaht prinzipiell, will aber nicht auf seine ehemaligen Kameraden schießen. Die italienischen Freunde akzeptieren seine Entscheidung, bieten ihm aber auch weiterhin ihren Schutz.
Im Februar ´44 wird Walter J. verhaftet. Die beiden Deserteure hatten nur noch unregelmäßig Verbindung zueinander halten können. Nach der Verhaftung seines Freundes wird die Lage nun auch für Walter B. brenzlig. Die italienischen Freunde können für seinen Schutz nicht mehr garantieren. Sie besorgen ihm gefälschte Papiere, Soldbuch und Marschbefehl, ausgestellt auf den Namen Willi Behrend. Walter will sich auf den Weg nach Berlin machen, in die “Höhle des Löwen“. Noch weiß er nicht, dass die Gestapo auch dort nach ihm fahndet. In Berlin, so glaubt er, sei er immer noch am sichersten. Hier würde er leichter Unterschlupf finden, denn er kennt die Stadt seit frühster Kindheit, und hier wohnt auch seine Familie. Er verlässt Florenz überstürzt – das ist sein Glück. Denn – wie er viele Jahre später erfahren wird – die Gestapo war ihm dicht auf den Fersen.
Flucht nach Zahnbehandlung
Walter reist von Florenz über München in die Reichshauptstadt – ein gefährliches Unternehmen. Die Fahrt mit gefälschten Papieren führt ihn durch viele Kontrollen, ständig die Angst im Nacken, ergriffen und als gesuchter Deserteur standrechtlich erschossen zu werden. Aber Walter ist entschlossen, nicht aufzugeben und er hat eine gehörige Portion Glück: In München muss er den Zug wechseln. Kaum hat er Platz genommen, kommt eine Feldjäger-Patrouille auf ihn zu. Walter soll bei der Zugkontrolle mithelfen. Groteske Fügung des Schicksals: Er, der Deserteur, soll dabei helfen, den Zug nach Fahnenflüchtigen zu durchsuchen.
Am 19. März ´44 kommt Walter in Berlin an, am Geburtstag seiner Mutter. Er steigt am Anhalterbahnhof aus und läuft am Ausgang erneut in eine Militär-Kontrolle. Geistesgegenwärtig heftet er sich das Abzeichen der Stalingradkämpfer an und marschiert schnurstracks hinaus. Er fährt zu seinem Bruder. Mit den schwarzgefärbten Haaren erkennt ihn dort zunächst niemand. Walter erfährt, dass auch in Berlin nach ihm gefahndet und seine Familie unter Druck gesetzt wird. Die Gestapo will seinen Kopf und sucht ihn steckbrieflich.
Am Abend schleicht sich Walter in das Haus seiner Mutter. Erst als sicher ist, dass nur verlässliche Freunde bei der Geburtstagsfeier zugegen sind, erscheint er in der Runde. Herta, eine Jugendfreundin seiner Schwester, bietet ihm zunächst Unterschlupf in ihrer Wohnung. Über vier Wochen lebt er dort, dann werden wieder Quartierswechsel notwendig. Er versteckt sich in einer Laubenkolonie in Hohenschönhausen. Um nicht entdeckt zu werden, verlässt er die Laube bei Tage nicht einmal bei Bombenangriffen. Nur wenn die Bomben nachts fallen, verkriecht er sich in einem Erdloch. „Hier fühlte ich mich als alter Stalingrad-Kämpfer am wohlsten“ – erzählt er.
Erfolglose Ermittlungen
Die Rote Armee rückt weiter auf Berlin vor. Walter beschließt, sich von nun an in der eigenen Wohnung, bei Ehefrau und Sohn, verborgen zu halten. Er ist zwar noch verheiratet, lebt aber schon lange getrennt von seiner Frau. In dieser lebensbedrohlichen Situation steht sie zu ihm. Walter schleicht sich in die Wohnung. Er muss vorsichtig sein, denn die Nachbarn sind übereifrige Nazis. Sie würden ihn sofort denunzieren, sollten sie mitbekommen, dass er sich im Hause versteckt hält. Walter lebt von nun an sporadisch in der Wohnung, die meiste Zeit verbringt er jedoch in einem dunklen Kellerverschlag.
Regelmäßig erscheinen Gestapo-Beamte bei seiner Ehefrau. Sie wollen die Familie einschüchtern und Walters Aufenthaltsort erfahren. Noch vermuten ihn sie jedoch in Italien. Bei einem dieser Gestapo-Besuche entgeht Walter nur knapp der Verhaftung. Der Beamte verhört die Ehefrau, und Walter sitzt im Kleiderschrank. Durch die dünne Schrankwand kann er das Verhör genau verfolgen. Seine Waffe hat er griffbereit, um sich notfalls zu verteidigen. “Gott sei Dank musste ich sie nicht benutzen“, sagt er.
Februar ´45: Die Schlacht um Berlin tobt. Im April erobert die Rote Armee die Reichshauptstadt. Berlin liegt in Trümmern, aber für Walter kommt der Moment der Befreiung, nach eineinhalb Jahren Flucht. „Es war eine Explosion der Freude“ – erzählt er. Sehnsüchtig hatte er all die Monate auf diesen Tag gewartet. Doch in die Freude mischt sich auch Zorn auf die vielen Mitläufer des Regimes, die mit der Niederlage die Seiten wechseln – politischer Opportunismus der ersten Stunde. Eine Nachbarin war bis zuletzt stramme Parteigängerin und hätte ihn ohne Skrupel an die Gestapo verraten. Als die ersten russischen Soldaten einrücken, fällt sie ihnen um den Hals und begrüßt sie mit den Worten: „Endlich seid ihr da!“. Original-Ton Walter: „Die hätte ich am liebsten umgelegt!“.
Die Nachbarin kommt ungestraft davon, aber ausgerechnet für Walter beginnt mit der lang erhofften Befreiung eine neue Leidensgeschichte. Er meldet sich auf der russischen Kommandantur – ohne Papiere, denn die hatte man ihm bei der Verhaftung in Italien abgenommen – und schildert seine Geschichte. Doch den Russen klingt sie zu unglaubwürdig. Walter wird verhört und kommt in verschiedene Gefangenenlager. Immer wieder erklärt man ihm, seine Angaben würden überprüft. Aber anstatt ihn freizulassen, steckt man ihn schließlich in einen Transport. Er landet in einem sibirischen Gefangenenlager. Erst als er an Ruhr erkrankt, darf er nach Hause. Völlig unterernährt und schwer erkrankt kehrt Walter im September ´46 nach Berlin zurück.
Zu seiner italienischen Freundin Giulia hatte Walter seit der überstürzten Flucht aus Florenz im Jahr 1944 keinen Kontakt mehr. Ihre Spur hatte sich verloren. Geblieben war immer der Wunsch, sie einmal wiederzutreffen. Nach längerer Recherche gelang es vor einigen Jahren, sie in Italien aufzuspüren. Zahlreiche Telefonate zwischen den beiden folgten und dann – viele Jahrzehnte nach ihrer unfreiwilligen Trennung – gab es ein Wiedersehen. Walter erfuhr, dass Giulia unmittelbar nach seiner Flucht aus Florenz verhaftet wurde. Die Gestapo hatte von ihrer Verbindung zu Walter erfahren. Zwei Wochen saß sie in Haft, kam erst durch Intervention eines hohen italienischen Polizeioffiziers frei.
Als Walter und Giulia sich im März ’44 trennen mussten, hofften sie auf ein baldiges Ende des Krieges. Walter wollte in wenigen Monaten zurück in Florenz sein. Doch es kam anders. Er war ein weiteres Jahr auf der Flucht, dann folgten fast anderthalb Jahre russische Kriegsgefangenschaft. Erst Ende 1946 konnte Walter nach Italien schreiben. Doch seine Briefe blieben unbeantwortet. Für ihn war klar, Giulia hätte sich in der Zwischenzeit anderweitig gebunden. Sie jedoch wartete ihrerseits vergeblich auf ihn, viele Jahre. Seine Briefe hatte sie nie erhalten. Den Ring, den Walter ihr beim überstürzten Abschied aus Florenz schenkte, trug sie immer bei sich. Erst Ende der achtziger Jahre hat sie ihn verloren.
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Michael Enger
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