Auf der Flucht

Die abenteuerliche Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs

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Als Walter B. Stalingrad nur mit Glück überlebt, immer mehr die Sinnlosigkeit des Krieges und die Schreckensseiten des NS-Regimes erkennt, fasst der Oberge­frei­te der Wehrmacht 1943 in Italien den folgenschweren Entschluss, zu deser­tie­ren. Über eineinhalb Jahre ist er bis Kriegsende auf der Flucht, gejagt von Feld­jägern und der Gestapo …

Jahrelang ist Walter B. ein „guter und treuer Soldat“. Doch als er die “Hölle von Stalingrad“ nur mit Glück überlebt, immer mehr die Sinnlosigkeit des Krieges und die Schreckensseiten des NS-Regimes erkennt, fasst der Oberge­frei­te der Wehrmacht 1943 in Italien den folgenschweren Entschluss, zu deser­tie­ren – obwohl ihn das den Kopf kosten kann. Über eineinhalb Jahre ist er bis Kriegsende auf der Flucht, zu­nächst in Florenz, später in Berlin, gejagt von Feld­jägern und der Gestapo. Eine Biographie, die zwischen 1933 und 1945 markante Ereignisse in Hitler-Deutschland unmittelbar kreuzt; die von An­pa­s­sung, Verweige­rung und dem Kampf ums Über­leben handelt. Eine Geschichte, die durch eine umfangreiche Fahndungakte von Wehr­machts- und Gestapo-Stellen (erhalten im Bundes­archiv) ausführlich doku­men­tiert ist und die der Pro­ta­gonist nie öffentlich gemacht hat.

Die abenteuerliche Desertionsgeschichte von Walter B. erzählt auch über eine große Liebe in Italien in Zeiten des Krieges, der Liebe zwi­schen einem deut­schen Deserteur und seiner italienischen Feundin. Der Krieg führte die beiden zusammen und riss sie abrupt wieder ausein­an­der­.

Walter B. wird 1915 geboren, im zweiten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs. Seinen Vater lernt er nie kennen, er fällt wenige Tage vor Walters Geburt an der West-Front. Die Mutter zieht darauf mit ihren 5 Kindern aus der Gegend von Hannover nach Berlin. Hier wächst Walter auf.

Walter macht eine Lehre als Elektriker, danach wird er arbeitslos. Aber der 19jährige will nicht länger ohne Beschäftigung sein und meldet sich deshalb 1934 freiwillig zur Wehrmacht. Zwar gäbe es in Deutschland noch keine Wehr­pflicht – hatte man ihm gesagt – aber sie werde bald eingeführt. Walter will deshalb einer späteren Einberu­fung vorgreifen und die Zeit der Arbeitslosigkeit nutzen.

Noch ist Deutschland an die Auflagen des Versailler Vertrages gebunden. Danach darf die deutsche Armee nur eine maximale Stärke von 100.000 Mann haben. Insgeheim jedoch rüstet man bereits kräftig auf, wie auch Walter erleben muß. Er wird zu einer Nach­rich­tenabteilung in Potsdam eingezogen. Um deren Existenz vor ausländischen Beobachtern zu verschleiern, trägt sie einen Tarnna­men. Erst ein Jahr später – nach Einführung der Wehrpflicht – darf seine Abteilung auch offiziell existieren und wird von nun an als Heeresteil geführt. Walter lernt das „Strip­pen­ziehen“, muss Nachrichten­verbindungen im Feld herstellen.

1936 beginnen in Berlin die Olympischen Sommerspiele – die willkommene Gele­gen­heit für die Nazis, der Weltöffentlichkeit ein positives Bild von Deutsch­land vorzuspielen. Auch Walters Einheit ist im Einsatz. Sie ist für den technischen Ablauf der Spiele eingeteilt. Walter verlegt Leitungen für die Radio­über­tragun­g. Im hinteren Stadionbereich erlebt dabei mehrere Auftritte von Adolf Hitler.

Später arbeitet Walter als Schreiber im Regimentsstab und erstellt Mobilmachungs­pläne. Die Wehrmacht möchte den verläßlichen Soldaten länger an sich binden und auf 10 Jahre verpflichten. Doch ihm ist sein Zivil lieber. 1937 nimmt er bei Siemens eine Anstellung als Elektriker an. Siemens – damals maßgeb­lich an allen Unterneh­mun­gen und Neubauten der Nazis für ein „neues Berlin“ beteiligt – setzt ihn auf Montagen ein, u.a. bei den IG-Farben-Werken, schließlich in der Reichskanzlei. Walter avanciert zum bauleiten­den Monteur. Mit einem 20 Leute umfassenden Montage­­trupp ist er verantwortlich für die Elektrik des marmor­nen Mosaiksaals, dem Empfangsbereich der Reichskanzlei. Im schwarzen Anzug hält er bei Empfängen „Licht­wache“: “Immer dann, wenn Hitler in die Reichskanzlei kam, gab es Frei­bier für die Arbeiter“ – erzählt Walter. Dies ist allerdings das einzige positive Erlebnis, das er mit dem “Führer des großdeut­schen Reiches“ verbindet. Ansonsten hinterlassen die mehrmaligen Zusammen­tref­fen mit Hitler bei ihm nicht sonderlich viel Eindruck.

Walter BIn der Folgezeit lernt Walter weitere NS-Größen kennen, kann einen Blick hinter die Fassa­den des Regimes werfen. Als Monteur arbeitet er in den Privathäu­sern von Goeb­bels, Heß, Ribben­trop und Göring,. Er sieht den Luxus in den Häusern der Nazi-Oberen, die vergolde­ten Armaturen in Goebbels Badezimmer. Anfänglich hat er großen Respekt vor den Staatsfüh­rern, doch als er in der privaten Umge­bung ihre „Macken“ kennenlernt, ist er mehr und mehr befremdet. Walter berichtet z.B. von Görings Leiden­schaft für seine Spielzeug­eisenbahn. Sie war in seinem verbunker­tem Privat­haus in Karin Hall aufgebaut, in einem überdimen­sio­na­len Oval von ca. 12 Metern Durchmesser. Siemens hatte dafür eigens einen Elektriker abge­stellt, der die Anlage warten musste. Über ein Schaltpult konnte der Reichs­feldmar­schall seine ge­sam­­te Spielzeugwelt bedie­nen. Er saß in einem wuchtigen Ledersessel und spielte Krieg. Der Clou: Per Knopfdruck ließ er aus Mini­a­tur­­­flugzeugen Spielzeugbomben auf die Mo­dell­eisenbahn fallen.

August 1939: Walter wird eingezogen. Seit seiner Entlassung aus der Truppe war er Reservist. Hitler plant den Überfall auf Polen. „Wir wußten alle, dass es zum Krieg mit Polen kommen würde“ – erzählt Walter. Zwei Wochen ist er an der deutsch-polni­schen Grenze statio­niert. Am 1. September beginnt der Überfall auf Polen. Wie alle in seiner Truppe glaubt auch Walter der deutschen Kriegspropaganda, Polen habe deutsches Reichsge­biet angegriffen. Walters Einheit arbeit im „Stangenbau“, muss Masten­ setzen für die Nachrichtenüber­mittlung. Bis Weihnach­ten 1939 bleibt er in der Nähe von Warschau. Er erlebt, wie deutsche Soldaten Geschäfte plündern. Die Feldjäger („Ketten­hunde“ genannt) schauen wohlwol­lend zu und bekommen dafür ihren Anteil von der Beute ab. Walter quartiert sich bei einer polnischen Familie ein. Er versorgt sie mit Kohlen und Lebens­mit­teln, freundet sich mit der Tochter des Hauses an. Als seine Einheit schließlich verlegt wird, kommt es zu schmerzlichen Abschiedssze­nen.

Zum Jahreswechsel 1939/40 ist Walter wieder in Berlin. Er wird vom Kriegsdienst freigestellt, denn Siemens hat ihn für unabkömmlich erklären lassen. Knapp ein Jahr ist er auf dem Heinckel-Flugplatz in Berlin-Johannis­thal beschäftigt, verlegt Kabel in Flugzeughal­len und arbeitet im Flugzeug­bau. Unter den Arbeitskollegen – so sagt er – gab es wenige, die glaubten, der Krieg sei zu gewinnen. „Aber niemand hat sich vorstellen können, dass er mal so grausam werden wird“.

Im Januar ´42 wird Walter erneut eingezogen, diesmal zur Infanterie. Selbst die Eingaben von Siemens bleiben erfolglos. Im Eiltempo geht es nach Waysma bei Moskau, weiter nach Shaks. Hier erlebt er zum ersten Mal die blutigen Seiten des Krieges. Im Bom­ben­hagel russischer Flieger versuchen sie den Transportzug zu verlassen. Von den 20 Kameraden seiner Einheit, alles erfahrene Sol­da­ten, überleben nur zwölf die erste Feindberührung. Mit Gewaltmärschen geht es im September ’42 über Orel, Woro­nesch und Kalatsch nach Stalin­grad. Ende Oktober kommt Walter wegen einer Kieferverei­terung ins dortige Lazarett, liegt unter lauter Schwerverletz­ten. Nach zehn Tagen kann er ihre Schreie nicht mehr ertragen. Er macht sich aus dem Lazarett auf und schlägt sich zu seiner Einheit durch. Gefährliche Militäreinsätze folgen, die er mit viel Glück überlebt. Nach zwei Wochen schickt man ihn erst einmal auf Heimatur­laub, um die Auswirkungen seiner Kiefer­ver­­eiterung zu kurie­ren. Aber mittlerweile toben schwere Kämpfe um Stalingrad. Walter gehört zu den letzten, die Stalingrad vor der Einkesselung durch russische Verbände noch verlas­sen können. Seine Einheit wird dort später komplett aufge­rieben.

Stalingrad wird für Walter zum Schlüsseler­lebnis. Er denkt zum ersten Mal an Deser­tion. Beim Heimaturlaub in Berlin gibt es lange Gespräche mit seinen Brüdern und seinem Schwager. Sie suchen nach einer Möglichkeit, den Krieg für Walter zu been­den, finden aber keinen Ausweg. Nach zwei Wochen in Berlin geht es zurück an die Ost-Front. Der Kessel von Stalingrad wird immer kleiner und die Sieges­euphorie unter den Kameraden ist längst dahin. Pläne für die Fahnenflucht muss Walter jedoch allein schmieden, offen darüber zu reden, kann den Kopf kosten. Nach langer Fahrt erreicht er einen Sammelpunkt der Wehrmacht vor dem Kessel. Der Kom­ando­stab will Verbände über eine Luftbrücke hinein­fliegen. Das Vorhaben scheitert jedoch, da eine Luftbrücke wegen des russischen Beschusses nicht mehr möglich ist. Es ist Ende Dezember 1942.

Aus den wenigen Soldaten, die aus Stalingrad hinauskamen, werden neue Verbände zusammengestellt. Walter wird nach Frankreich verlegt, an den Golf von Biskaja – eine kurze Ruhepause für die „Kämpfer von Stalingrad“ – wie man sie nennt. Stalin­grad ist inzwischen gefallen. In Frankreich wird Walters Verband nun aufgefrischt mit neuen Soldaten.

Beurteilung Walter B.

Akte Fahnenflucht

Akte Fahnenflucht 
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Im Sommer ´43 werden sie zur Unterstüt­zung des zusammengebrochenen Mussoli­ni-Regimes nach Italien verlegt. Es geht die Westküste hinunter bis zum Lago di Bolsena. Acht Tage liegen sie an der Nord-Seite des Bolsener Sees, dann wird Walter Mitte August mit einem kleinen Kommando aus seiner Einheit nach Paris geschickt. Sie sollen LKW-Ersatzteile besorgen. Da die Teile jedoch nicht am Lager sind, kehren die Soldaten nach Italien zurück. Nur Walter bleibt in Paris, soll später mit den Ersatzteilen nachkom­men. Einige Tage bleibt er in Paris, dann macht auch er sich auf den Weg nach Italien. Unterwegs trifft er einen Kame­ra­den aus seiner Einheit, Walter J., der ebenfalls aus Berlin stammt. Walter B. und Walter J. freunden sich an. Beide wollen den Krieg nicht länger mit­ma­chen und erkennen eine lang erhoffte Chance, sich von der Truppe abzusetzen. Sie bummeln auf der Rückreise zu ihrer Einheit, verzögern absichtlich die Fahrt und nutzen geschickt die Unüber­sicht­lichkeit der zu­sam­men­brechenden Front. Mit immer neuen Marsch­­befehlen reisen sie umher, geben vor, ihre Einheit zu suchen. Die beiden schaf­fen es sogar, einige Tage in Berlin und Frankfurt/Oder zu verbringen. Erst später geht es wieder zurück nach Italien, nach Florenz. In einem kleinen Restau­rant lernen sie zwei junge Italie­nerin­nen kennen. Giulia arbeitet dort häufig als Bedienung, Franca ist ihre Freundin. In den folgen­den Tagen treffen sich die vier regelmäßig.

Walter B. und Walter J. be­schlie­ßen, zu deser­tie­ren. Ihre italieni­schen Freundin­nen wollen dabei hel­fen. Die bei­den Oberge­­freiten haben längst den Ab­marsch ihrer Treppe ver­säumt. Sie tauchen in Florenz unter. Ohne Geld und Verpflegung durch die Truppe müs­sen sie nun ihr Überleben im Verborgenen organisieren. Die Not macht erfinderisch, und die beiden erweisen sich als sehr geschäfts­tüchtig.

Freunde aus dem italienischen Widerstand geben einen heißen Tipp: auf dem Bahn­hof stünden Waggons, voll beladen mit Socken für die Wehrmacht. Die beiden kundschaften aus, wann die Wachposten Streife laufen, organisieren einen LKW, Fahrer und zwei Hilfsarbeiter. In ihren Uniformen fahren sie nachts vor. Die Streife hält sie für Wachposten, und so können sie die großen Ballen mit insge­samt 4.000 Wollsocken auf den LKW laden und abfahren. Sie verkaufen die gesamte Ladung an die Besitzerin des Hotels, in dem sie wohnen. Aber die Gestapo kommt dem Coup der geklauten Socken auf die Spur. Zwei Hotelgäste werden wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verhaftet.

Fortezza da Basso

Festung Fortezza da Basso

Akte Fortezza

Akte Fortezza

Mit dem Geld aus dem lukrativen Sockendeal kommen die beiden Deserteure fürs Erste über die Runden und kaufen sich Zivilkleider. Einige Wochen lang können sie in Florenz unbeschadet untertauchen. Aber Mitte Dezember `43 wird Walter J. bei einer Kontrolle durch Feldjäger festgenom­men. Zwei Wochen später geht ihnen auch Walter B. ins Netz. Man sperrt sie ins Fortezza da Basso, einer gewaltigen Festung, die mitten Florenz liegt und als Militärgefängnis dient. Mehrere Wochen verbringen die beiden Deserteure in Einzelhaft, nur unterbrochen durch stunden­lan­ge Verhöre der Gestapo. Mit der Zeit bekommen sie freundschaftlichen Kontakt zu einigen Italienern, die im Gefängnis für Hilfsarbeiten abgestellt sind. Mit ihrer Hilfe können sie Kassiber unterein­an­der austauschen und sogar Kontakt zu den Freun­din­nen in der Stadt halten. Walter B und Walter J. schmieden Ausbruchspläne, prüfen die Möglichkeiten zu fliehen. Giulia signali­siert Unterstützung für den Fall einer erfolg­reichen Flucht. Ein direkter Ausbruch aus der Festung ist jedoch unmöglich. Deshalb ersinnen die beiden einen besonderen Plan. Sie wissen, dass es im Ge­fäng­nis keinen Zahnarzt gibt. Die Gefan­ge­nen werden deshalb zur Behandlung in die Stadt gebracht. Beide simulieren Zahnschmerzen. Es gelingt ihnen, in den selben Gefangenen­transport zu kom­men. Auf dem Weg durch Florenz können sie an einer verab­rede­ten Stel­le flie­hen. Sie beschließen, dass sich von nun an jeder allein durchschlagen soll. Über Mittels­leute wollen sie Ver­bin­­dung zu­ein­­­an­der halten.

Walter B. versteckt sich zu­nächst in einem Klo­ster. Die Nonnen geben ihm zu essen und benachrichtigen seine italienischen Freunde. Die verstecken ihn für einige Tage in der Wohnung von Ernesto, dem Besitzer des Restaurants. Danach taucht er für längere Zeit bei Giulia unter. Walter und Giulia sind mittlerweile ein Paar. Sie färbt ihm die Haare schwarz und besorgt ihm Zivil­kleider. Gedeckt durch Giulia und Freunde aus dem italieni­schen Widerstand kann sich Walter in Florenz verborgen halten. Die Italiener riskieren viel, um sein Leben zu retten. „Kaum ein Deutscher hätte für mich getan, was die italienischen Freunde für mich getan haben“ – so Walter. Auf die Straße traut Walter sich nun aber nicht mehr, denn mittlerweile wird nach ihm gefahndet. Nur in dem kleinem Zimmer von Giulia fühlt er sich noch sicher. Für Walter beginnt eine lange Zeit des Wartens. Auf Dauer wird es jedoch auch in Giulias Unterkunft für ihn zu gefährlich. Quartiers­wech­sel werden notwen­dig. Nur im Dunkeln wagt er sich mit Giulia auf die Straße. Sie hakt sich bei ihm unter, und so spazieren beide wie ein altes Ehepaar durch die Straßen.

Akte Aufenthalt unbekannt
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Wochen vergehen. Eingeschlossen in seinen Verstecken, verbringt Walter die Zeit damit, italienisch zu lernen. Er hört das deutsch­spra­chige Programm der BBC und gibt die Informa­tionen an die Italiener weiter. Auf einer Wandkarte notiert er minutiös die von Süden vorrückende Front und debattiert mit den italienischen Freunden über die Kriegser­eignisse. Walter hofft, dass der Krieg bald zu Ende gehen wird – aber der dauert immer länger.

Ernesto aus dem Restaurant hat Verbin­dung zu Partisanen und will wissen, ob Walter bereit sei, für sie zu kämpfen. Walter bejaht prinzipiell, will aber nicht auf seine ehemaligen Kameraden schießen. Die italieni­schen Freunde akzeptieren seine Entscheidung, bieten ihm aber auch weiterhin ihren Schutz.

Im Februar ´44 wird Walter J. verhaftet. Die beiden Deserteure hatten nur noch unregelmäßig Verbin­dung zueinander halten können. Nach der Verhaftung seines Freundes wird die Lage nun auch für Walter B. brenzlig. Die italienischen Freunde können für seinen Schutz nicht mehr garantieren. Sie besorgen ihm gefälschte Papiere, Soldbuch und Marschbe­fehl, ausgestellt auf den Namen Willi Behrend. Walter will sich auf den Weg nach Berlin machen, in die “Höhle des Löwen“. Noch weiß er nicht, dass die Gestapo auch dort nach ihm fahndet. In Berlin, so glaubt er, sei er immer noch am sichersten. Hier würde er leichter Unterschlupf finden, denn er kennt die Stadt seit frühster Kindheit, und hier wohnt auch seine Familie. Er verlässt Florenz überstürzt – das ist sein Glück. Denn – wie er viele Jahre später erfahren wird – die Gestapo war ihm dicht auf den Fersen.

Flucht nach Zahnbehandlung

Flucht nach Zahnbehandlung

Walter reist von Florenz über München in die Reichshauptstadt – ein gefährliches Unternehmen. Die Fahrt mit gefälschten Papieren führt ihn durch viele Kontrollen, ständig die Angst im Nacken, ergriffen und als gesuchter Deserteur standrechtlich erschossen zu werden. Aber Walter ist entschlossen, nicht aufzugeben und er hat eine gehörige Portion Glück: In München muss er den Zug wechseln. Kaum hat er Platz genommen, kommt eine Feldjäger-Patrouille auf ihn zu. Walter soll bei der Zugkon­trolle mithelfen. Groteske Fügung des Schicksals: Er, der Deserteur, soll dabei helfen, den Zug nach Fahnenflüchtigen zu durchsuchen.

Am 19. März ´44 kommt Walter in Berlin an, am Geburtstag seiner Mutter. Er steigt am Anhalterbahnhof aus und läuft am Ausgang erneut in eine Militär-Kontrolle. Geistes­­­gegen­wärtig heftet er sich das Abzeichen der Stalin­grad­kämpfer an und marschiert schnurstracks hinaus. Er fährt zu seinem Bruder. Mit den schwarz­gefärb­ten Haaren erkennt ihn dort zunächst niemand. Walter erfährt, dass auch in Berlin nach ihm gefahndet und seine Familie unter Druck gesetzt wird. Die Gestapo will seinen Kopf und sucht ihn steckbrieflich.

Am Abend schleicht sich Walter in das Haus seiner Mutter. Erst als sicher ist, dass nur verlässli­che Freunde bei der Geburts­tagsfeier zugegen sind, erscheint er in der Runde. Herta, eine Jugendfreun­din seiner Schwester, bietet ihm zunächst Unter­schlupf in ihrer Wohnung. Über vier Wochen lebt er dort, dann werden wieder Quartiers­­­wechsel notwendig. Er versteckt sich in einer Laubenko­lonie in Hohen­schön­­hausen. Um nicht entdeckt zu werden, verlässt er die Laube bei Tage nicht einmal bei Bombenangriffen. Nur wenn die Bomben nachts fallen, verkriecht er sich in einem Erdloch. „Hier fühlte ich mich als alter Stalingrad-Kämpfer am wohl­sten“ – erzählt er.

   Akte Polizei Berlin

Erfolglose Ermittlungen

Erfolglose Ermittlungen

Die Rote Armee rückt weiter auf Berlin vor. Walter beschließt, sich von nun an in der eigenen Wohnung, bei Ehefrau und Sohn, verborgen zu halten. Er ist zwar noch verheiratet, lebt aber schon lange getrennt von seiner Frau. In dieser lebens­be­droh­li­chen Situation steht sie zu ihm. Walter schleicht sich in die Wohnung. Er muss vorsichtig sein, denn die Nachbarn sind übereifri­ge Nazis. Sie würden ihn sofort denunzieren, sollten sie mitbekommen, dass er sich im Hause versteckt hält. Walter lebt von nun an sporadisch in der Wohnung, die meiste Zeit verbringt er jedoch in einem dunklen Kellerverschlag.

Regelmäßig erscheinen Gestapo-Beamte bei seiner Ehefrau. Sie wollen die Familie ein­schüch­tern und Walters Aufenthaltsort erfahren. Noch vermuten ihn sie jedoch in Italien. Bei einem dieser Gestapo-Besuche entgeht Walter nur knapp der Verhaf­tung. Der Beamte verhört die Ehefrau, und Walter sitzt im Kleiderschrank. Durch die dünne Schrankwand kann er das Verhör genau verfolgen. Seine Waffe hat er griff­bereit, um sich notfalls zu verteidigen. “Gott sei Dank musste ich sie nicht benutzen“, sagt er.

Februar ´45: Die Schlacht um Berlin tobt. Im April erobert die Rote Armee die Reichs­­hauptstadt. Berlin liegt in Trümmern, aber für Walter kommt der Moment der Befreiung, nach eineinhalb Jahren Flucht. „Es war eine Explosion der Freude“ – erzählt er. Sehnsüchtig hatte er all die Monate auf diesen Tag gewartet. Doch in die Freude mischt sich auch Zorn auf die vielen Mitläufer des Regimes, die mit der Niederlage die Seiten wechseln – politischer Opportu­nis­­mus der ersten Stunde. Eine Nachbarin war bis zuletzt stramme Partei­gängerin und hätte ihn ohne Skrupel an die Gestapo verraten. Als die ersten russi­schen Soldaten einrücken, fällt sie ihnen um den Hals und begrüßt sie mit den Worten: „Endlich seid ihr da!“. Original-Ton Walter: „Die hätte ich am liebsten umgelegt!“.

Die Nachbarin kommt ungestraft davon, aber ausgerechnet für Walter beginnt mit der lang erhofften Befreiung eine neue Leidensgeschichte. Er meldet sich auf der russischen Kommandantur – ohne Papiere, denn die hatte man ihm bei der Verhaf­tung in Italien abgenommen – und schildert seine Geschichte. Doch den Russen klingt sie zu unglaubwürdig. Walter wird verhört und kommt in verschiedene Gefangenen­lager. Immer wieder erklärt man ihm, seine Angaben würden überprüft. Aber anstatt ihn freizulassen, steckt man ihn schließlich in einen Transport. Er landet in einem sibirischen Gefangenenlager. Erst als er an Ruhr erkrankt, darf er nach Hause. Völlig unterer­nährt und schwer erkrankt kehrt Walter im September ´46 nach Berlin zurück.

Zu seiner italienischen Freundin Giulia hatte Walter seit der überstürzten Flucht aus Florenz im Jahr 1944 keinen Kontakt mehr. Ihre Spur hatte sich verloren. Geblieben war immer der Wunsch, sie einmal wiederzutreffen. Nach längerer Recherche gelang es vor einigen Jahren, sie in Italien aufzuspüren. Zahlreiche Telefonate zwischen den beiden folgten und dann – viele Jahrzehnte nach ihrer unfrei­willigen Trennung – gab es ein Wiedersehen. Walter erfuhr, dass Giulia unmittelbar nach seiner Flucht aus Florenz verhaftet wurde. Die Gestapo hatte von ihrer Verbindung zu Walter erfahren. Zwei Wochen saß sie in Haft, kam erst durch Intervention eines hohen italieni­schen Polizeiof­fiziers frei.

Als Walter und Giulia sich im März ’44 trennen mussten, hofften sie auf ein baldiges Ende des Krieges. Walter wollte in wenigen Monaten zurück in Florenz sein. Doch es kam anders. Er war ein weiteres Jahr auf der Flucht, dann folgten fast anderthalb Jahre russische Kriegsge­fangen­schaft. Erst Ende 1946 konnte Walter nach Italien schrei­ben. Doch seine Briefe blieben unbeantwortet. Für ihn war klar, Giulia hätte sich in der Zwischenzeit anderwei­tig gebun­den. Sie jedoch wartete ihrerseits vergeb­lich auf ihn, viele Jahre. Seine Briefe hatte sie nie erhalten. Den Ring, den Walter ihr beim überstürzten Ab­schied aus Florenz schenkte, trug sie immer bei sich. Erst Ende der achtziger Jahre hat sie ihn verloren.

Michael Enger

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