Keines der jüdischen Kinder wurde entdeckt

Disma PiccininiDisma Piccinini erinnert sich an die Kinder der Villa Emma

Disma Piccinini lebt in dem kleinen Ort Nonantola in der Nähe von Modena in Norditalien. Als im Sommer 1942 die ersten der 73 jüdischen Kinder ankamen, war er 12 Jahre alt.
Disma Piccinini: In den ersten Tagen nach der Ankunft gab es nur wenig Kontakte. Es gab zunächst ein Sprachproblem. Die Kinder sprachen alle deutsch und wir italienisch bzw. Dialekt. Die ersten Begegnungen entstanden bei der Arbeit. Einige der Kinder waren in der Weingenossenschaft tätig, die Mädchen arbeiteten außerdem bei einer Näherin und die Jungen bei einem Bauern. So waren sie eingebunden in die verschiedenen Bereiche des Dorfes.

Ich war im gleichen Alter wie die Kinder aus der Villa Emma. Besonders an Fritz erinnere ich mich noch genau. Er sah typisch deutsch aus: groß, blond mit blauen Augen. Zuerst arbeiteten wir nur zusammen, aber dann schlossen wir Freundschaft. Durch ihn lernte ich auch andere Kinder kennen, und wir spielten dann immer zusammen. Aber auch unter den Erwachsenen entwickelten sich enge Kontakte.

Natürlich waren wir erst einmal überrascht von ihrer Ankunft, aber auch sehr neugierig. Wir Kinder wussten damals nichts über die Judenverfolgung. Nonantola war ein sehr isoliertes  Dorf und Radio gab es keines. Die Presse unterlag der faschistischen Zensur, und in der Schule gab es nur faschistische Propaganda. Vor allem nach der Einführung der italienischen Rassengesetze 1938 wurde uns gelehrt, dass wir Juden hassen sollten. Es hieß, wir Italiener wären besser als Juden. Doch als die Kinder der Villa Emma hier ankamen, habe ich gemerkt, dass das gar nicht stimmte.

Vor der Besetzung Italiens durch die Deutschen war der Aufenthalt der Kinder durch das italienische Innenministerium genehmigt. Aber mit dem 8. September 1943 änderte sich alles. Jetzt waren alle akut bedroht. Mit dem Verstecken der Kinder aus der Villa Emma begann in Nonantola der Widerstand, die Resistenza. Als diese dann geflohen waren, gab es auch die ersten bewaffneten Widerstandsaktionen. Mit der Stationierung von SS-Soldaten wuchs dann nochmals der Widerstand.

Die Leute hier wussten, dass die jüdischen Kinder gefährdet waren. Wir Kinder erfuhren nun hin und wieder etwas durch Erzählungen der Erwachsenen über Konzentrationslager, über Auschwitz, auch wenn wir nicht genau wussten, was das hieß. Die ganze Wahrheit haben wir erst später erfahren. In der Nacht zum 9. September 1943 wurden alle Kinder aus der Villa Emma geholt und in Sicherheit gebracht. 32 Kinder wurden in den Räumen des Priesterseminars versteckt, die anderen in den Familien von Nonantola. Dazu habe ich nicht viel beigetragen, ich war erst 12 Jahre alt. Das waren die Erwachsenen hier vom Ort, hauptsächlich der Priester und der Arzt. Wir Kinder haben später mitgeholfen. Wir waren ständig mit den jüdischen Kindern zusammen und haben ihnen so Schutz gegeben, haben ihnen Wege gezeigt, um den Deutschen nicht zu begegnen, und haben nicht darüber gesprochen.

Praktisch der ganze Ort war beteiligt. Nonantola hatte damals ungefähr 1.000 EinwohnerInnen. Die Kinder wurden auf Familien verteilt, und da wir selbst kaum etwas zu essen hatten, bereiteten die Nonnen zusätzliche Essensrationen und transportierten diese mit Schubkarren zu den Familien. Es wurden ja nicht nur die Kinder vor den Deutschen versteckt, sondern auch flüchtende italienische Soldaten. Auch englische Soldaten, die aus einem nahe gelegenen Militärgefängnis geflohen waren, mussten versteckt werden. Es gab also in jeder Familie Personen, die versteckt wurden und miternährt werden mussten.

Keines der jüdischen Kinder wurde entdeckt. Das ganze Chaos nach dem 8. September begünstigte diese Aktion. Der italienische Staat existierte nicht mehr. Die Carabinieri hatten kein Interesse an dem, was da passierte, die italienischen Soldaten waren auf der Flucht und die deutschen waren als Besatzung zwar anwesend, kannten sich aber noch nicht aus. Diese Zwischenzeit hat sicherlich den jüdischen Kindern zur Flucht verholfen.

Nach dem Krieg geriet die ganze Geschichte in Vergessenheit. Erst als in den 60er Jahren Josef Indig wieder nach Nonantola kam und unser Priester von der Gedenkstätte Yad Vashem den Ehrentitel eines „Gerechten unter den Völkern“ verliehen bekam, haben die Kontakte wieder angefangen. Als Klaus Voigt im Oktober 2001 dann diese Ausstellung hier in Nonantola eröffnete, kamen alle Überlebenden. Daraus sind dann auch wieder Freundschaften entstanden.