„Höhle der Banditen“
In seinem Buch Covo di banditi beschreibt der Politikwissenschaftler Marco Comello aus Cumiana eines der größten Massaker während der deutschen Besetzung Italiens: 51 Zivilisten werden in Cumiana als Vergeltung für eine Partisanenoperation erschossen.
Straße in Cumiana 1944 und 2002 (vergrößern: Auf die Bilder klicken) Rechts: Don Felice Pozzo und Dr. Michelangelo Ferrero nach dem Krieg. Sie überbrachten den Partisanen das Ultimatum, das die Erschießung der Geiseln androhte
Links: Marco Comello (links) lebt in Cumiana und forscht zur Zeitgeschichte dieser Gegend. Mit im Bild: Ehem. Bürgermeister Gianfranco Poli Mitte: Gedenken am Friedhof in Cumiana Rechts: Obersturmführer Renninger (links) auf einem Volksfest in der Gegend von Pinerolo. Nach dem Abzug der deutschen Truppen nahmen Partisanen das Bild an sich.
Im Herbst 1999 erhob die Turiner Militärstaatsanwaltschaft in dieser Sache Anklage wegen Mord, begangen an italienischen Zivilisten durch feindliche Militärangehörige. Angeklagt war Anton Renninger aus Erlangen. Nach Zeugenaussagen war er damals mit einer italienischen SS-Einheit unter deutschem Kommando in Cumiana. Anton Renninger starb im April 2000, bevor der Prozess beendet werden konnte.
Circa 40 Kilometer westlich von Turin liegt die Gemeinde Cumiana. Für die Deutschen galt diese Gegend am Fuß der Berge als „rifugio di banditi“ – als ein Rückzugsgebiet der PartisanInnen, von dem aus diese operierten und Zugang zur Ebene um Turin hatten. In den Februartagen des Jahres 1944 gelingt es den PartisanInnen des Val Sangone (nahe Cumiana), die Kontrolle über die umliegenden Berge und Dörfer zu erlangen. Cumianas faschistischer Bürgermeister macht sich aus dem Staub.
Als im Frühjahr 1944 die Deutschen in ganz Italien die Bekämpfung des Widerstands forcieren, wird auch Cumiana Zielort der Repression: Anfang März wird das VII. Bataillon der italienischen SS in der Ebene fünf Kilometer vor Cumiana stationiert. Unterstützt von anderen Einheiten beginnt die SS mit Durchkämmungsaktionen und Verhaftungen.
Bei einer Razzia am 30. März werden 80 Personen verhaftet, eine unbekannte Anzahl von ihnen verschwindet in Arbeitslagern in Deutschland. Einen Tag später bringt ein Lastwagen, gefahren von einem der Gefangenen des Vortages, die Lebensmittelzuteilung für Cumiana. Eskortiert wird er von 40 italienischen SS-Männern unter dem Kommando deutscher Unteroffiziere. Die Eskorte bleibt über Nacht mit dem Lastwagen im Zentrum von Cumiana, da die Verteilung an die Händler erst am nächsten Morgen erfolgen kann – eine Provokation für die PartisanInnen.
Im Morgengrauen beschließen die Kommandanten dreier PartisanInnengruppen, darunter Franco Nicoletta, den Lastwagen an sich zu bringen. Die Aktion beginnt am 1. April um 11 Uhr. An ihr nehmen 60 PartisanInnen teil, die aus den umliegenden Häusern die Eskorte des Lastwagens unter Beschuss nehmen. Nach heftigen Gefechten bemächtigen sich die PartisanInnen des LKWs. Sie nehmen 31 SS-ler als Gefangene mit in die Berge. Zwei Partisanen kommen ums Leben.
Die Vergeltungsaktion beginnt zwei Stunden später. Einige 100 Soldaten, Deutsche und Italiener, beginnen die Häuser zu räumen, zu plündern und niederzubrennen. 135 ZivilistInnen werden am Dorfeingang zusammengetrieben und am Nachmittag als Geiseln in die SS-Kaserne gebracht.
Aus dem Augenzeugenbericht des Arztes von Cumiana, Michelangelo Ferrero: „Am 2. April gegen 9 Uhr wurde ich gefragt, ob ich den Partisanen eine Mitteilung des deutschen Offiziers überbringen würde. Ich bejahte. Der Offizier diktierte mir mit Hilfe eines Dolmetschers einen Brief, den ich niederschrieb. Ich habe am 8. Januar 1946 dem Oberleutnant Fairley eine Kopie des Briefes übergeben, der in meiner Anwesenheit unterschrieben wurde. Ich sah den deutschen Offizier diesen Brief unterschreiben und erinnere mich, dass sein Name ‘Renningen’ war. Zusammen mit Don Felice Pozzo und einem anderen Pfarrer ging ich zu den Partisanen. Sie schrieben den Brief ab und brachten ihn in ihr Hauptquartier.“
Dieser Brief ist das Ultimatum Renningers, in dem gedroht wird, die Geiseln zu erschießen und Cumiana niederzubrennen, wenn die PartisanInnen ihre Gefangenen nicht „heil und unversehrt“ freiließen.
Links: Der Gutshof Riva di Caia - dort wurden 51 der Geiseln am 3. April 1944 erschossen Mitte: Die Mühle, aus der die Partisanen deutsche und faschistische itlaienische Einheiten beschossen (2002) Rechts: Daraufhin wurde die Mühle und das Zentrum Cumianas niedergebrannt und 128 Bewohner als Geiseln genommen (1944)
In einer ersten Entscheidung lassen die PartisanInnen mitteilen, dass sie nur bereit seien, acht Gefangene gegen acht Partisanen, die am 30. März in die Hände der Deutschen gefallen waren, zu tauschen.
„Diese Entscheidung entstand aus dem militärischen Charakter der Situation: Wäre man auf die Erpressung eingegangen, hätten die Partisanen in Zukunft bei ähnlichen Geschehnissen keinerlei Handlungsspielraum mehr gehabt. Außerdem schien es in diesem Moment legitim, den Deutschen einen Gegenvorschlag zu unterbreiten. Die Bevölkerung sollte aus dem Kriegsgeschehen herausgehalten werden“ (Covo di banditi, S. 88).
Dieses Angebot der PartisanInnen wird von den Deutschen abgelehnt. In den nächsten Stunden trägt Doktor Ferrero immer wieder Angebote und Antworten zwischen den PartisanInnen und der SS hin und her. Die PartisanInnen schlagen eine Unterredung vor, Renninger will dem nur zustimmen, wenn diese im Umkreis von 500 Metern von Cumiana stattfindet. Dies wiederum lehnen die PartisanInnen aus Sicherheitsgründen ab.
Dazu Ferrero: „Am frühen Nachmittag des 3. April ging ich das vierte Mal zu den Partisanen. Die Partisanen schlugen Giaveno als Ort der Unterredung vor. Giaveno liegt 9 Kilometer von Cumiana entfernt. Oberleutnant Renninger lehnte dies ab und sagte: ‘Entweder innerhalb von 500 Meter oder gar nicht.’ Gegen 16 Uhr ging ich das fünfte Mal zu den Partisanen mit dem Ziel, sie dazu zu bewegen, einem Treffen in nächster Nähe von Cumiana zuzustimmen. Die Partisanen willigten schließlich ein, dass aus ihren Reihen Giulio Nicoletta mit mir nach Cumiana zurückkehrte. Wir kamen gegen 19 Uhr nach Cumiana. Nicoletta blieb am Dorfeingang, und ich machte mich auf die Suche nach Oberleutnant Renninger. Entlang der Straße lagen die Leichen von vielen Menschen, und ein faschistischer Offizier sagte mir, dass die Befehle des Generals inzwischen ausgeführt worden sind.“
Die Leichen entlang der Straße sind die Leichen von 51 Dorfbewohnern, hauptsächlich Männer im mittleren Alter und acht Partisanen. Gioacchino Mollar, der selbst unter den Geiseln war, erinnert sich, dass diese Gruppe schon am Vortag aus den anderen Geiseln, ältere Männer und Evakuierte aus Turin, ausgesondert worden war.
Augenzeugenbericht von Gioacchino Pietro Mollar, Schuster von Cumiana: „Der italienische Unteroffizier sagte: ‘Es ist jetzt 17.38; ihr habt 5 Minuten um die heiligen Sakramente zu empfangen, um 17.43 wird begonnen.’ Dann befahl der italienische Unteroffizier je drei Geiseln vorzutreten und führte diese um die Ecke der Mauer. Wir konnten die Schüsse hören. Ungefähr die Hälfte der Geiseln war schon liquidiert, als ich an der Reihe war vorzutreten. Ich ging gerade mit meinen zwei Kameraden in Richtung der Ecke, als eine der noch zurückgebliebenen Geiseln schrie: ‘Lasst uns fliehen.’ Als ich diese Worte hörte, blieb ich stehen, genau an der Ecke der Mauer und sah den deutschen Unteroffizier, der neben den Leichen stand und mich ansah. Ich tat so, als wollte ich noch einmal den Priester grüßen und drehte mich um, um zu sehen, was die anderen Geiseln taten. Als ich mich wieder zu dem deutschen Unteroffizier wandte, sah ich, dass er schon einen meiner beiden Kameraden getötet hatte und gerade dabei war, auch den anderen zu töten. In diesem Moment schleuderte eine der Geiseln eine Flasche gegen die Soldaten, die die Geiseln in einem engen Kreis umzingelten. Diese begannen daraufhin mit ihren Maschinengewehren zu schießen. Kurz bevor das Feuer eröffnet wurde, rannten drei Geiseln zur Mauerecke in Richtung des deutschen Unteroffiziers. Sie ließen sich lieber von ihm erschießen, als von einem Maschinengewehr getroffen zu werden. Der deutsche Unteroffizier wurde durch die Schüsse überrascht und erschoss eilig diese drei Geiseln. Während er dies tat, warf ich mich auf den Leichenberg. Der deutsche Unteroffizier, besorgt wegen der Schreie und Schüsse, lief an die Ecke der Mauer um zu beobachten, was geschah, und begann zu schießen. Als er mir den Rücken zukehrte, sprang ich von dem Leichenberg auf und rannte auf eine Tür in der Mauer zu. Ich kam in das Haus und befand mich vor der Tür zum Keller, in dem ich mich dann versteckte. Einige Minuten später kam dorthin auch der Lehrer Luigi Losano, und wir versteckten uns zusammen hinter einem Weinfass.“
Nach neuen Verhandlungen werden zwei Tage später die übrigen Geiseln gegen die Gefangenen der PartisanInnen ausgetauscht.
Am selben Tag schreibt Doktor Ferrero auf Geheiß des deutschen Kommandos eine Proklamation an die Bevölkerung von Cumiana: „Jede Feindseligkeit ist beendet. Die Bevölkerung wird aufgefordert zu den alltäglichen Arbeiten zurückzukehren, da es nun keinen Grund mehr für Auseinandersetzungen und Aufruhr gibt“ (Covo di banditi, S. 114).
55 Jahre später
Anton Renninger wird in der Anklageschrift vorgeworfen, „ohne Notwendigkeit“ den Tod dieser 51 Personen bewirkt zu haben. Der 81-jährige Erlanger reagierte anfänglich mit der Rechtfertigung, er habe nur Befehle ausgeführt. Später teilte sein Anwalt mit, dass Renninger zur Zeit des Massakers nicht in Italien, sondern in Deutschland in einem Krankenhaus gewesen sei. Für den Staatsanwalt Pier Paolo Rivello klingt dies nicht plausibel: „Dies war auch eines der Elemente, das wir versucht haben zu widerlegen. Diese ganze Reise nach Deutschland erschien unglaubwürdig.“ Des Weiteren führt er zur Beweislage gegen Renninger aus: „Die Schlüsselfigur für diese Verhandlungen war der Partisan Giulio Nicoletta. Er wurde dreimal vernommen und hat sich mit großer Klarheit an Renninger erinnert.“
In Cumiana ist diese Geschichte, wie Marco Comello ausführt, noch heute gegenwärtig: „Auch wenn seitdem fast 60 Jahre vergangen sind, hat sie niemand vergessen. 51 Bewohner einer Kommune mit 5000 Einwohnern sind relativ gesehen ungeheuer viele. Das wäre ungefähr so, als wenn in Turin, einer Stadt mit 1 Million Einwohnern, 10.000 Einwohner auf einmal erschossen würden. Es ist vielleicht ein bisschen hässlich, solche Vergleiche anzustellen, aber es dient dazu, besser zu verstehen, was dies für ein Schock war, der auch heute noch – nach bald 60 Jahren – anhält. Deswegen ist diese Geschichte nie vergessen worden.“
Heike Herzog
M. Comello: Covo di banditi, Pinerolo 1998