„Erleichterung, weil dieses Massaker vom Gericht beim Namen genannt wurde“

Urteil zum Massaker in Sant`Anna – Interview mit einem Prozessbeobachter

„Der Prozess ist so ausgegangen, wie selbst die Überlebenden es nicht erhofft hatten: Lebenslänglich für alle 10 Angeklagten, die zusätzlich noch Prozesskosten und Entschädigungszahlungen leisten müssen …“

560 Menschen wurden ermordet, als die 16. Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ am 12. August 1944 das kleine norditalienische Dorf Sant`Anna di Stazzema überfiel.
Über 60 Jahre lang wurden die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen. Dann entdeckte man 1994 im so genannten „Schrank der Schande“, der jahrzehntelang aus dubiosen Gründen verschlossen in der Militärstaatsanwaltschaft in Rom stand, Akten über dieses und viele weitere Kriegsverbrechen. Eineinhalb Jahre lang währten die Verhandlungen vor dem Militärgericht von La Spezia gegen die Verantwortlichen von Sant`Anna. Am 22. Juni 2005 fiel das Urteil. Allerdings blieb die Anklagebank leer. Kein einziger der 10 Angeklagten war erschienen.
Matthias Durchfeld ist Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Resistenza und Zeitgeschichte in der Provinz Reggio Emilia und hat den Ausgang des Prozesses beobachtet.

Welches Urteil hat das Militärgericht von La Spezia gefällt?

Matthias Durchfeld: Der Prozess ist so ausgegangen, wie selbst die Überlebenden es nicht erhofft hatten: Lebenslänglich für alle 10 Angeklagten, die zusätzlich noch Prozesskosten und Entschädigungszahlungen leisten müssen. Nach 60 Jahren war das für die Angehörigen endlich der Akt der Gerechtigkeit, nach dem sie jahrzehntelang gestrebt haben und auf den sie gewartet haben. Sie sind jahrzehntelang hingehalten worden, auf den Arm genommen worden, die Sachen sind vertuscht worden. Und das nachdem ihre Familien zerstört worden sind und sie ihre Angehörigen verloren haben war. Das war natürlich ein ständiges Nachtreten, was ihnen sehr weh getan hat. Insofern war das Urteil für sie eine große Genugtuung.

Was hat dieses Urteil, lebenslänglich, jetzt für Konsequenzen? Die Angeklagten waren ja nicht vor Gericht in La Spezia erschienen, konnten auch nicht in Haft genommen werden, sondern sie leben weiterhin in der BRD. Deutschland liefert eigene Staatsangehörige nicht aus. Hat dieses Urteil für sie überhaupt Konsequenzen?

Matthias Durchfeld: Nicht alle Angeklagten haben sich identisch verhalten. Es gibt ein paar Ausnahmen, einer der Angeklagten hat einen Zweitwohnsitz, ein Ferienhaus am Gardasee. Er hat sich, wohl aus Angst vor einer Zwangsvorführung, mal blicken lassen und hat sehr oberflächlich und zynisch geantwortet. Ein anderer war als Zeuge geladen, hat dann vor Gericht gestanden und ist deshalb vom Zeugenstand in den Angeklagtenstatus überführt worden. Aber alle anderen haben sich nie blicken lassen, haben auch nie ein Wort des Bedauerns oder ähnliches von sich hören lassen. Alle waren gestern abwesend und insofern wird das Urteil erst einmal keine direkten Konsequenzen haben.
Erst mal muss man sehen, ob in Berufung gegangen wird. Aber selbst wenn die Berufung nicht eingelegt oder nicht erfolgreich ist und das Urteil rechtskräftig wird, heißt das noch lange nicht, dass es vollstreckt werden kann, denn normalerweise wird nicht ausgeliefert. Das könnte theoretisch beantragt werden. Der Staatsanwalt hat gestern gesagt, dass er sich noch nicht entschieden hat, ob er die Auslieferung beantragt. Zumal Italien das Europäische Auslieferungsabkommen nicht unterzeichnet hat aufgrund von eigenen Ängsten, zum Teil auch von Regierungsmitgliedern, die Probleme haben mit internationalen Haftbefehlen. Insofern kann es gut sein, dass es zu keiner Vollstreckung dieses Urteils kommt.
Was die Genugtuung der Angehörigen angeht: Es geht nicht so sehr um eine tatsächliche Vollstreckung, sondern erst einmal darum, dass ein Gericht nach jahrelanger Diskussion zu einem Urteil gefunden hat und dieses Massaker beim Namen genannt hat. Dass ein Gericht gesagt hat, es war keine militärische Aktion oder eine Aktion gegen Partisanen, sondern ein Massaker an der Zivilbevölkerung. Und man hat die Leute beim Namen benannt hat, die seit 60 Jahren in Ruhe leben ohne jemals irgend etwas dazu gesagt zu haben oder für „Wiedergutmachung“ getan zu haben.

Wie haben die Angehörigen und Überlebenden des Massakers in Sant`Anna auf das Urteil reagiert? Einige von ihnen waren ja NebenklägerInnen?

Matthias Durchfeld: Es war eine große öffentliche Aufmerksamkeit auf Sant`Anna gerichtet. Sämtliche Nebenkläger waren vertreten, die italienische Regierung, das Land, die Stadt, der Bürgermeister, die einzelnen Bürgerinnen und Bürger von Sant`Anna, die Überlebenden von Sant´Anna, damals noch Kinder, waren zahlreich von ihrem 50km weiter gelegenen kleinen Bergort angereist. Die Erleichterung war sehr groß, es gab sehr viele gerührte Gesichter und Freudentränen, aber natürlich auch Tränen im Gedenken an die Getöteten. Und nach der Urteilsverkündung erscholl ein befreiender Applaus, obwohl das im Gerichtssaal eigentlich nicht sein darf.

Der Prozess hatte in ganz Italien und auch international für einiges Aufsehen gesorgt. Wie sahen die Reaktionen in der italienischen Öffentlichkeit aus?

Matthias Durchfeld: Die italienische Presse war massiv vertreten, mit Journalisten aus Presse, Funk und Fernsehen. Eine große Aufmerksamkeit also von ihnen und insgesamt auch absolut positive Reaktionen auf die Verurteilung aller 10 zu lebenslänglich.

Wie reagierte die Verteidigung auf den Urteilsspruch?

Matthias Durchfeld: Die Verteidiger hatten auf Freispruch plädiert, insofern waren sie natürlich enttäuscht. Aber sie haben mehrfach gesagt und darauf Wert gelegt: Wir sind hier um einen Angeklagten zu verteidigen, nicht um eine Tat zu verteidigen. Die Verteidiger haben mehrfach darauf hingewiesen, wie sie selbst diese schreckliche Tat als solche einstufen. Aber dass sie eben nicht überzeugt sind, dass ihre Mandanten bei dieser Tat zugegen waren. Im italienischen Gerichtsverfahren ist die Urteilsverkündung sehr kurz und bündig, die Begründung wird innerhalb von drei Monaten schriftlich nachgereicht. Das Gericht wird also sehr schnell verlassen und deshalb hat es keine größeren Reaktionen von den Verteidigern nach dem Urteil gegeben.

Auch in der BRD laufen seit 2002 Ermittlungen wegen des Massakers in Sant`Anna di Stazzema. Die schleppen sich aber eher dahin und es gibt noch keine Anklage. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat immer wieder betont es sei eben schwierig, weil jedem Einzelnen die Beteiligung ganz konkret nachgewiesen werden müsse und außerdem warte man das Urteil in La Spezia ab. Erzeugt dieses Urteil in Italien jetzt mehr Druck auf die Ermittlungen und eine Anklage?

Matthias Durchfeld: Das wünsche ich mir. Es kann natürlich keine Doppelbestrafung geben für ein und dieselbe Tat. Nun ist auf der einen Seite in Italien eine Bestrafung der 10 Täter sehr unwahrscheinlich, aufgrund der Nichtauslieferung. Auf der anderen Seite steht da aber jetzt eine Urteilsverkündung auf lebenslänglich. Es gibt also eine seriöse Aufarbeitung, die italienischen und deutschen Staatsanwälte haben auch eng zusammengearbeitet, das heißt es gibt den gleichen Wissensstand. Gestern waren auch zwei Herren aus Stuttgart in La Spezia vor Ort und haben das auch bestätigt. Das heißt, wenn in Italien aufgrund dieses Wissenstandes sogar ein Urteil zu lebenslänglich gefallen ist, denke ich, dass in Deutschland zumindest eine Anklageerhebung erfolgen müsste. Insofern war diese Verurteilung in Italien sehr wichtig und ein wichtiger Schritt in Richtung eines Prozesses in Deutschland.
Zudem werden die italienischen Überlebenden auch Nebenkläger in Deutschland sein. Am Mittwoch waren deutsche RechtsanwältInnen hier und haben die Vollmacht bekommen die italienischen Überlebenden zu vertreten. Insofern wird noch mehr Öffentliches Interesse entstehen, denn die italienischen Überlebenden sind daran interessiert, dass es in Deutschland endlich zu diesem Prozess kommt.

Interview: Maike Dimar