„Regierungen handeln gegen die Interessen der Opfer“

Deutschland versucht, die Opfer von NS-Kriegsverbrechen abzuspeisen – und hat dabei die Hilfe des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag

Von Roberto Oligeri (dessen fünf Geschwister von der Waffen-SS im August 1944 bei einem Massaker in der Gemeinde Fivizzano, Provinz Massa-Carrara umgebracht wurden. Er war ziviler Nebenkläger im Prozess gegen die Täter, von denen neun zu lebenslanger Haft verurteilt wurden.)

Am 3. Februar 2012 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IHG) sein Urteil im Verfahren Deutschland gegen Italien. Aus unserer Sicht ist es ein krasses Fehlurteil. Es ging in diesem Prozess um die Frage, was rechtlich schwerer wiegt: die Immunität von Staaten, deren Soldaten schwerste Kriegsverbrechen begangen haben oder das Recht der Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Entschädigung.

Italienische Militärgerichte hatten seit einigen Jahren die Bundesrepublik dazu verurteilt, Entschädigungen an Überlebende und Familienangehörige der zivilen Opfer von Waffen-SS- und Wehrmachts-Einheiten zu zahlen, die während der deutschen Besatzung zahlreiche Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung verübten, die ganze Dörfer zerstörten, Frauen vergewaltigten, plünderten und die Männer als Arbeitssklaven zur Zwangsarbeit deportierten.

Unter Berufung auf die Staatenimmunität weigerten sich die deutschen Regierungen zu zahlen, während die italienischen Gerichte argumentierten, dass die BRD sich bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mehr auf das Prinzip der Staatenimmunität berufen könne.

Die Richter des IHG gaben der BRD Recht und liefern damit die einzelnen Opfer des Krieges gegen die Zivilbevölkerung der staatlichen Willkür aus. Die Opfer und ihre Vertreter_innen waren vom Verfahren ausgeschlossen, die Gräueltaten der deutschen Soldatesca wurden nicht benannt. Im Zentrum stand das abstrakte juristische Prinzip und die Staatsräson.

In diesem Prozess ging es auch um die gigantischen Kosten von gegenwärtigen und künftigen Kriegen sowie Kriegen der jüngeren Vergangenheit, sollte die Staatenimmunität nicht mehr Priorität besitzt und die einzelnen Opfer von schweren Kriegs- und Menschheitsverbrechen ein Recht auf Schadenersatz haben.

Um welche Verbrechen ging es in diesem Prozess? Um Massaker an der Zivilbevölkerung in Griechenland und Italien und um die Deportation zur Zwangsarbeit. Allein in Italien wurden mehr als 10.000 Zivilisten von Waffen-SS- und Wehrmachtseinheiten willkürlich und oft auf grausame Weise ermordet. Ganze Dörfer wurden entsprechend der militärischen Strategie der verbrannten Erde zerstört und die überlebenden Menschen aller Lebensgrundlagen beraubt. Hunderttausende von Frauen und Männern wurden zur Zwangsarbeit mit oft tödlichen Folgen verschleppt.

Ich lebe in der Gemeinde Fivizzano, in deren Weiler und Dörfern vom 17. bis zum 27. August 1944 etwa 400 Menschen massakriert wurden, vor allem Frauen und Kinder jeden Alters, vom( noch ungeborenen) Baby angefangen bis zur Greisin. Hunderte von Männer wurden zur Zwangsarbeit deportiert, 20 Dörfer und 32 Bauernhöfe und selbst die Kirche von Monzone-Alto in Schutt und Asche gelegt.

Mein Vater war Wirt eines Gasthauses im Dorf San Terenzo. Er wurde am 19. August 1944 mit vorgehaltener Waffe gezwungen, mit der Köchin und der Kellnerin ein Mittagessen für den Kommandanten, den Waffen-SS-Sturmbannführer Walter Reder, und seine Offiziere zu servieren. Während dieser Zeit wurde das ganze Dorf von den Soldaten der Aufklärungsabteilung der 16. Panzergrenadier-Division “Reichsführer SS” durchkämmt, die Frauen, Kinder und alten Männer (die meisten jüngeren Männer hatten sich aus Angst vor der Deportation versteckt) aus den Häusern gejagt und zum etwa einen Kilometer entfernten Bauernhof Valla getrieben, wo sie auf weitere Befehle warteten.

In der Zwischenzeit planten Reder und seine Offiziere bei gebratenen Hähnchen, edlen Weinen und süßem Wermuth das Massaker an den Gefangenen. Am Ende der opulenten Mahlzeit wurde ein Bote mit der Befehl der Ermordung aller Gefangenen nach Valla geschickt. An diesem Tag wurden in unserem Dorf 160 Menschen umgebracht, darunter meine 5 Geschwister – zwei Brüder und drei Schwestern, der Älteste 19, der Jüngste 3 Jahre alt.

Reder und seine Tischgenossen haben die Rechnung in dem Gasthaus selbstverständlich nicht beglichen. Im Gegenteil, seine Soldaten raubten alles, was sie wegtragen konnten und zündeten dann das Gasthaus und alle anderen Häuser des Dorfes an.

Es kann sein, dass man sich in der deutschen Öffentlichkeit fragt, warum die Täter erst so spät zur Rechenschaft gezogen wurden, sie, die, nebenbei bemerkt, nie ein Wort des Bedauerns oder gar der Reue über die begangenen grausamen Taten zum Ausdruck gebracht haben. Vielleicht fragt man sich in Deutschland auch, welchen Sinn es hat, diese Prozesse nach so vielen Jahren gegen greise Männer zu führen. Aus dem einfachen Grund, weil Prozesse zu einem früheren Zeitpunkt verhindert wurden.

Die Täter dieser entsetzlichen Verbrechen waren schon während des Krieges oder unmittelbar danach ermittelt worden – auch Prozesse waren schon auf den Weg gebracht. Die Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen wurde dann aus Gründen der internationalen Diplomatie in der Zeit des Kalten Krieges ausgebremst. Im Zusammenhang mit der von der Nato gewünschten deutschen Wiederbewaffnung war es nicht opportun, gegen deutsche Kriegsverbrecher zu prozessieren. Und so verschwanden die Ermittlungsakten für mehr als 50 Jahre in den Archiven der italienischen Militärstaatsanwaltschaft. Aus diesen Gründen hat es nie Gerechtigkeit für unsere Schwestern und Brüder, unsere Eltern und sonstige Verwandten gegeben, die unschuldig von deutschen Militäreinheiten niedergemetzelt wurden, von deutschen Soldaten, die durchdrungen waren von der Ideologie des Herrenmenschen, Tötungsmaschinen, die auch vor der schuld- und wehrlosen Zivilbevölkerung keinen Halt machten. Wie schon ausgeführt, wurde dann in der Nachkriegszeit aus Gründen der Staatsräson ein Leichentuch des Schweigens über diese Verbrechen gebreitet, um so die ohne Zweifel berechtigten Forderungen der betroffenen Familien nach Gerechtigkeit ins Leere laufen zu lassen.

Niemand kümmerte sich darum, wie die Überlebenden und die Familien der Ermordeten die erlebte Katastrophe und die erlittenen Traumata würden bewältigen können. Sie wurden in absoluter Gleichgültigkeit alleine gelassen, nur begleitet von ihrem Schmerz und einer Verzweiflung, die entsetzlicher nicht sein konnten, ohne Schuld an dem Verlust ihrer gesamten Familie und all dessen, was sie besaßen. Die furchtbaren Erlebnisse der Überlebenden, haben Spuren nicht nur im Leben der einzelnen Personen, sondern auch in den Familien und den gemeinschaftlichen Zusammenhängen hinterlassen – Narben, die ein Leben lang bleiben.

Die Täter indessen konnten in aller Ruhe nach Hause zurückkehren. In der Tat wurde nur noch in sehr wenigen Fällen nach den Schuldigen gesucht und ihnen der Prozess gemacht. Aber auch diese wurden – von Ausnahmen abgesehen – nach kurzer Haftzeit entlassen. Sie konnten sich ein gutbürgerliches, ruhiges Leben aufbauen und ohne schlechtes Gewissen Haus, Familie, Kinder und Enkel genießen. All das hatten sie hingegen ihren Opfern unmöglich gemacht.

Im vergangenen Jahrzehnt haben mutige Staatsanwälte die Spuren dieser Nazisoldaten erneut aufgenommen. Die Prozesse in Italien führten überwiegend zu Verurteilungen wegen Mordes und zu lebenslänglicher Haft. Für die Überlebenden und die Familienangehörigen der Opfer waren und sind diese Prozesse eine Gelegenheit, ihre Geschichte und deren Folgen öffentlich zu machen und darzustellen, dass sie ohne Schuld Opfer von geplanten und systematisch durchgeführten Kriegsverbrechen geworden sind und nicht von zufälligen Kriegsereignissen. Wir wollen keine Rache, aber Gerechtigkeit. Wir wollen, dass sich die deutsche und italienische Gesellschaft mit diesen Verbrechen auseinandersetzen – mit ihren Ursachen und mit ihren Folgen. Die Zeit heilt eben nicht automatisch alle Wunden, Traumata wie diese benötigen zur Heilung der Gerechtigkeit.

Mit den Verurteilungen ist ein erster, wichtiger Schritt zur juristischen Gerechtigkeit getan, die nächsten Schritte bestünden in der Vollstreckung der Urteile, darin, dass die Verurteilten zur Rechenschaft gezogen würden und in der Zahlung der von den italienischen Gerichten zugesprochenen Entschädigungen. Statt dessen erleben wir, dass die Täter in Deutschland weiterhin als Biedermänner in Freiheit leben können, unbehelligt von der deutschen Justiz, obwohl diese über die gleichen Beweismittel verfügt wie die italienischen Gerichte. Eine lobenswerte Ausnahme ist hier der Fall Scheungraber, der, nachdem er in Italien verurteilt wurde, auch in der BRD zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde.

Zweimal in der Geschichte wurden unsere Interessen der Staatsräson geopfert, das 1. Mal in der Nachkriegszeit, das 2. Mail mit dem Urteil des IGH am 03.02.2012. Diesmal aus Gründen der Macht Deutschlands und zum Vorteil der Länder, für die Kriege immer noch ein politisch opportunes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen sind.

Selbst wenn der IGH Deutschland aufgefordert hat, sich mit Italien an einen Verhandlungstisch zu setzen um sich über die Entschädigungsfrage zu einigen, so ist dies nur ein schwacher Trost, da die Verhandlungsposition der Opfer ja eben durch den IGH geschwächt wurde. Es ist also sehr zweifelhaft, dass die BRD eine nennenswerte Entschädigung zu zahlen bereit sein wird. Die Regierungen beider Länder haben bisher in konzertierter Aktion gegen die Interessen der Opfer gehandelt. Warum sollte sich daran jetzt etwas ändern, doch nur, wenn der Druck von außen stark genug ist. Aber eins sei bemerkt: mit der Spende eines Gedenksteins ist die deutsche Schuld nicht getilgt, und auch nicht mit gefühlvollen Worten und dem Vergießen von Krokodilstränen seitens deutscher Politiker, die schon in der Vergangenheit folgenlos blieben.

(übersetzt von Marianne Wienemann)