Prozess von Verona: Erschütternde Zeugenaussagen

Befragung einer Zeugin aus Cervarolo im Prozess von Verona

Wehrmachtsangehörige in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt

Überfälle auf Dörfer in der Toscana und der Emilia Romagna vor Gericht: Am 06. Juli 2011 um 21.00 Uhr ist es endlich soweit: im ­Militärgericht von Verona spricht der Gerichtspräsident nach über 50 Sitzungen das Urteil im Prozess gegen 12 Wehrmachtsangehörige der Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“. Vier Angeklagte sind während des Prozesses gestorben, es gibt 2 Freisprüche und sechs Verurteilungen zu lebenslänglicher Haft. Außerdem müssen die Verurteilten Entschädigungen zahlen und die Kosten des Verfahrens tragen.

Beifall im Zuhörerraum, aber auch Tränen und Umarmungen bei den Überlebenden und den Familienangehörigen der Opfer. 67 Jahre lang mussten sie auf diesen Moment warten, darauf, dass die Gesellschaft diese Verbrechen als solche brandmarkt und die Verbrecher beim Namen nennt.
Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die Verurteilten des gemeinschaftlich begangenen, fortgesetzten Mordes an nicht kriegsbeteiligten ZivilistInnen schuldig sind. Die Taten geschahen im Zeitraum vom 18. März bis zum 05. Mai 1944. In dieser kurzen Zeit überfielen Einheiten der Division Hermann Göring, unterstützt durch faschistische italienische Milizen, mehrere Dörfer in den Bergen der Toskana und der Emilia-­Romagna, töteten deren Bewohnerinnen und Bewohner, darunter zahlreiche Kinder unter 14 Jahren, insgesamt etwa 400 Menschen. Bei den Dörfern handelt es sich um Monchio, Susano, Costrignano (Provinz Modena), Cervarolo und Civago (Provinz Reggio-Emilia), Ceppetto, Cerreto Maggio (Provinz Florenz), Vallucciole, Stia, Pratovecchio, Partina, Moscaio, Castagno d’ Andrea, Badia a Prataglia, Caprese (Provinz Arezzo), Mommio (Provinz Massa-Carrara).
Keiner der Angeklagten ist vor Gericht erschienen. Sie wurden durch Wahl- oder PflichtverteidigerInnen vertreten. Da die Bundesrepublik Deutschland aus Gründen der zivilrechtlichen Haftung auch auf der Anklagebank saß, hatte die deutsche Botschaft in Rom ebenfalls einen Wahlverteidiger geschickt.
Erschütternd waren die Aussagen der zahlreichen Frauen und Männer, die selbst die Massaker überlebt hatten, aber mit ansehen mussten, wie ihre Familienangehörigen oder andere Menschen aus ihrem Dorf misshandelt, vergewaltigt, ermordet wurden. Sie mussten miterleben, wie ihre Häuser, ihr Vieh, ihre gesamte Lebensgrundlage niedergebrannt und zerstört wurden. Beeindruckend auch die Aussagen der Kinder und Enkel der Opfer, die berichteten, wie die Verarmung, aber vor allem die Traumatisierung der Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten das tägliche Familienleben beeinflusst hat – und das oft über Jahrzehnte hinweg bis heute.

Gedenktafel in Cervarolo

Gedenktafel in Cervarolo

Keine Andeutung von Reue

Die Beweisaufnahmen zu diesem Prozess begannen im Jahr 2005 zunächst durch die Militär-Staatsanwaltschaft in La Spezia, später dann durch die in Verona. Die deutschen Ermittlungsbehörden übergaben der italienischen Staatsanwaltschaft die Organigramme der Division Hermann Göring, Kriegstagebücher, Kartenmaterial, Fotos und Protokolle von Verhören. Außerdem 180 Protokolle von Telefongesprächen der Verdächtigen, die drei Monate lang abgehört worden waren. Der Leiter der ermittelnden italienischen Militärpolizei, der Carabinieri-General D’Elia, bemerkte dazu im Gerichtssaal, es sei auffällig, dass keiner der Verdächtigen in Befragungen durch ihn auch nur eine Andeutung von Reue geäußert habe.
Am Ende des Prozesses sieht es das italienische Militärgericht anhand der Beweismittel und Zeugenaussagen als erwiesen an, dass die Verurteilten als Offiziere und Unteroffiziere an der Planung der Massaker beteiligt waren, sich am Ort des Geschehens befanden und als Kommandanten der eingesetzten Truppen Verantwortung für deren Tötungsaktionen tragen.

Der Schrank der Schande

Die Frage steht im Raum, warum ­dieser und andere Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher erst 60 Jahre und länger nach den Massakern stattfanden. Während des Priebke-Prozesses in Rom wurden 1994 bei der Militärstaatsanwaltschaft 695 Akten über deutsche Kriegsverbrechen gefunden, die detaillierte Angaben über die Täter enthielten. Der Schrank, in dem sie vor unbefugten Augen verborgen lagen, wird in Italien „Schrank der Schande“ genannt. Da in vielen Fällen die vermutlichen Täter noch leben und die Taten nicht verjähren, waren die Akten als Grundlage für weitere Ermittlungen geeignet. Sie wurden an die zuständigen Militärstaatsanwaltschaften zur Bearbeitung gegeben, der größte Teil davon an jene in La Spezia. In der Folgezeit kam es zu mehreren Prozessen und Verurteilungen.
Wer oder was hat die italienischen Militärjustizbehörden zu dieser ­„Versteckaktion“ veranlasst? Am 10. Oktober 1956 schreibt der Verteidigungsminister Paolo Emilio Taviani an den Außenminister Gaetano Martino einen Brief. In ihm führt er aus, dass er dagegen sei, von Seiten Italiens Anträge auf die Auslieferung von Kriegsverbrechern an Deutschland zu stellen, um keinen Riss im atlantischen Bündnis zu provozieren und um den in letzter Zeit erstarkten Polemiken in Deutschland gegen die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen der NATO keine Nahrung zu geben. Die Akten verschwanden und damit für die Öffentlichkeit auch das Thema deutscher Kriegsverbrechen in Italien.

Passiert ist nichts

Zurück zur aktuellen Situation und der Frage, wie es um die Vollstreckung dieses und vergleichbarer Urteile bestellt ist. Im konkreten Fall dieses Prozesses hat die zweite Instanz in Rom im Oktober 2012 drei der sechs Urteile aufgehoben, die Staatsanwaltschaft daraufhin Berufung eingelegt und nun wartet man auf die entscheidende dritte Instanz.
In anderen Prozessen zu ähnlichen Fällen wie Marzabotto oder Sant‘Anna di Stazzema sind die Urteile seit Jahren durch alle drei italienische Instanzen gegangen und längst rechtskräftig. Passieren tut leider nichts. Die deutsche Justiz hätte verschiedene Handlungsmöglichkeiten:
Sie könnte zum Beispiel, wie im Fall Scheungraber(1) geschehen, ein Gerichtsverfahren gegen die Verurteilten und Tatverdächtigen einleiten. Macht sie aber nicht, weil nach ihrer Sichtweise die Beweismittel dafür nicht ausreichen. Als nächstes könnte sie die Verurteilten ausliefern, das Europarecht sieht dies vor. Das macht sie aber nur dann, wenn die Täter dem zustimmen, was diese in allen Fällen selbstverständlich nicht getan haben.
Danach besteht die Möglichkeit, die italienischen Urteile in Deutschland zu vollstrecken. Der zuständige italienische Militärstaatsanwalt Marco De Paolis hat entsprechende Anträge auf den Weg gebracht, wartet aber seit Jahren auf Antwort. Es ist nicht klar, wo die Anträge versandet sind – im italienischen Justizministerium oder in den zuständigen deutschen Landesjustizministerien. Der “Schrank der Schande” funktioniert wohl immer noch…

Entschädigung

Aber die Urteile enthalten außerdem das Recht der Opfer auf Entschädigungen seitens des deutschen Staates. Die Bundesregierung hätte also unmittelbar handeln können und den Opfern der Massaker die Entschädigungen zahlen, die die Gerichte ihnen zugesprochen haben.
Stattdessen hat sie beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen, erfolgreich den Antrag gestellt, dass es den italienischen Gerichten verboten sein soll, den deutschen Staat zu Schadensersatzzahlungen zu verurteilen. Begründung: „Staatenimmunität“.
Wie sagte der Verteidiger der BRD im Verona-Prozess, Rechtsanwalt Dossena: Dann könnten ja einzelne geschädigte vietnamesische BürgerInnen die USA wegen Napalmbomben vor ­Gericht ziehen und Entschädigungen fordern. Ebenso Opfer aus den Kriegen in Jugoslawien, bis zu den heutigen weltweiten Konflikten. Das würde die Gerichtsbarkeit überfordern, deshalb: besser nicht an der Staatenimmunität rühren.
Am 3. Februar 2012 haben die Richter in Den Haag zugunsten Deutschlands geurteilt. Die Entschädigungen müssen nicht gezahlt werden. Einspruch kann hier nicht eingelegt werden.

Die verurteilten Mörder leben ungestört ihr Rentnerleben, die Opfer erhalten keine Entschädigung. Immerhin aber bleibt die wichtige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, die durch die Prozesse begonnen hat und weiterhin statt­finden muss. Tat und Täter beim Namen nennen, Informationen verbreiten, Bildung anbieten und so ein wenig Gerechtigkeit von unten erzeugen. Das kann die Zivilgesellschaft leisten, da sind wir alle gefragt.

Matthias Durchfeld, Mitarbeiter im Institut für Widerstand und Zeitgeschichte (ISTORECO) in Reggio Emilia

(1) Dass ein Prozess gegen NS-Kriegsverbrecher in Deutschland möglich ist, zeigte die Anklageerhebung gegen Josef Scheungraber vor dem Land­gericht München I im Oktober 2008. Scheungraber war zunächst im September 2006 in Italien wegen des Massakers in Falzano di Cortona zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Am 11. August 2009 wurde er unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl wegen Mordes an zehn Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Matthias Durchfeld ist Mitautor des Films „Die Geige aus ­Cervarolo“ über das Massaker in Cervarolo und den ­Prozess in Verona.
Als DVD erhältlich bei: www.resistenza.de