Lageralltag in Fossoli

Aussagen von Überlebenden sind nahezu die einzige Möglichkeit, den Alltag in Fossoli zu rekonstruieren. Es gibt kaum Unterlagen über dieses Durchgangslager, da sie alle von den Nazi-Truppen bei ihrem Abzug vernichtet wurden …

„Wir hätten uns alle selbst umgebracht“
Die Venezianerin Amalia Navarro ist 27 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im Mai 1944 von den Deutschen in das Durchgangslager Fossoli bei Carpi deportiert wird.

Baracke im Lager Fossoli 2004 Modell des Durchgangslager Fossoli

Ehemalige Baracke im Lager Fossoli Oktober 2004
Rechts: Modell des ehemaligen Durchgangslager Fossoli  (Vergrößern: auf die Bilder klicken)

Odoardo Focherini, Journalist aus Carpi, wurde in Fossoli inhaftiert. Er hatte 105 jüdischen Menschen zur Flucht in die Schweiz verholfen. In Fossoli konnte ihn seine Frau besuchen. Es gab dafür nach Aussage von Frau Focherini sogar eine eigene Besuchsbaracke. Diese Aussagen von ZeitzeugInnen und Überlebenden sind nahezu die einzige Möglichkeit, den Alltag in Fossoli zu rekonstruieren. Es gibt kaum Unterlagen über dieses Durchgangslager, da sie alle von den Nazi-Truppen bei ihrem Abzug vernichtet wurden.
Auch konnten die Inhaftierten Briefe und Päckchen empfangen. Diese unterlagen zwar der Zensur, die aber nicht sehr streng gewesen sein muss. Vor allem Lebensmittel, aber auch Geld wurden geschickt, denn für Essen musste im Lager bezahlt werden.
Die Baracken im jüdischen Block des Lagers waren in kleine Zimmer unterteilt, in denen die Familien zusammen leben konnten, um einen relativ normalen Alltag vorzutäuschen. Dies gelang nur bedingt, denn die Häftlinge mussten im Januar und Februar 1944 in Ermangelung von Feuerholz ihre Betten verheizen um nicht zu erfrieren.
Die Menschen bekamen bei ihrer Einlieferung eine Nummer. Sie wurde nicht tätowiert, sondern musste auf einem Band um den Arm getragen werden. Sie sollte angeblich dazu dienen, den Verwaltungsaufwand für den Lohn zu vereinfachen, den die Häftlinge nach ihrer Deportation nach Deutschland für ihre dort zu leistende Arbeit bekommen sollten. Dies wurde den jüdischen Menschen auch als Grund für ihre Inhaftierung genannt.
Mit dieser Lüge, den geschilderten Lagerbedingungen und der Tatsache, dass die meisten nur ein bis maximal zwei Monate im Lager verbrachten, wurden die Häftlinge ruhig gehalten und die Transporte in die Vernichtungslager gezielt verschleiert.
Odoardo Focherini wurde nach Flossenbürg deportiert und starb im Außenlager Hersbruck an Blutvergiftung auf Grund einer unbehandelten Beinverletzung.

Dieter Binz

„Wir hätten uns alle selbst umgebracht“

Die Venezianerin Amalia Navarro ist 27 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im Mai 1944 von den Deutschen in das Durchgangslager Fossoli bei Carpi deportiert wird.

„Der Eindruck, den wir am Lagereingang erhielten, war entsetzlich. Schließlich hatten wir bis dahin noch nichts Schlimmeres gesehen. Aber nachdem wir nach einiger Zeit alte Bekannte wieder getroffen und mit den anderen Gefangenen neue Freundschaften geschlossen hatten, konnten wir uns dort etwas einleben.
Zum Glück war das deutsche Kommando nicht in unserem Lager stationiert. Wir wurden von italienischen Aufsehern bewacht, die human waren und uns gut behandelten. Es waren Kriegsgefangene, die aus Deutschland kamen. Sie hatten unter der Voraussetzung nach Italien zurückkehren können, dass sie in den Konzentrationslagern die Überwachung übernahmen. Sie hatten tatsächlich nichts mit den deutschen Wachen gemeinsam. (…)
Nachdem wir die erste Woche auf den Stufen der Baracken hatten übernachten müssen, weil kein anderer Platz vorhanden war, konnten wir uns mehr schlecht als recht im Inneren einrichten. Die Baracken bestanden aus jeweils zehn Räumen, und einen Raum mussten sich sechs bis sieben Menschen teilen; obwohl es keine Betten gab, konnten wir doch auf den Strohlagern mit einer Decke in der Nacht etwas Ruhe finden. (…)
Wir wurden zu keiner Arbeit gezwungen, und es gab auch keine Appelle. Wir konnten alle zusammen bleiben, und das war uns ein großer Trost. Morgens konnten wir selbst bestimmen, wann wir aufstanden, und bis nachts um 10 Uhr konnten wir uns ungehindert innerhalb des Lagers bewegen. Wenn die Sonne schien, sonnten wir uns, und abends trafen wir Jungs (wir lebten nicht getrennt von den Männern). Manchmal tanzten wir sogar etwas, um für einen Moment unser ungewisses Schicksal zu vergessen. Trotzdem empfanden wir diese Gefangenschaft als sehr hart. (…)
Als wir erfuhren, dass Rom von den Alliierten eingenommen worden war, gaben wir uns der Illusion hin, dass wir bald befreit werden würden. Wir lebten von dieser Hoffnung, denn wenn wir uns nur annähernd hätten vorstellen können, was uns noch erwartete, wir hätten uns alle in Fossoli selbst umgebracht.“Bei der Ankunft in Auschwitz wird ihre Mutter sofort ermordet. Sie ist erst 48 Jahre alt. Auch Amalias Bruder wird getötet.
Amalia Navarro überlebt die Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald und Theresienstadt. Nach der Befreiung gelingt ihr die Rückkehr nach Venedig. Am 20. September 1945 schreibt sie ihre Erinnerungen auf. 2002 werden diese Aufzeichnungen erstmalig unter dem Titel „Siamo ancora vive!“ (Wir leben noch) veröffentlicht.

Nadja Bennewitz

Amalia Navarro: Siamo ancora vive! Mit einem Vorwort von Moni Ovadia, Edizioni Messaggero Padova 2002, ISBN 88-250-1032-X