Kriegsverbrechen – wie war das alles möglich?

Eine Betrachtung zu den Ursachen von Kriegsverbrechen von Gerhard Schreiber

Als deutsche Besonderheit, die wesentlich zur Ermöglichung der auf dem italienischen Kriegsschauplatz und anderswo verübten Kriegsverbrechen beigetragen haben dürfte, wäre eine bis ins 19. Jahrhundert zu verfolgende Relativierungstendenz gegenüber dem internationalen Recht zu benennen. Diese fand zum Beispiel Ausdruck in der verbreiteten theoretischen Abwertung des Völkerrechts oder in der Bekämpfung humanitären Denkens im Offizierkorps. Im Nationalsozialismus erreichte all das einen Höhepunkt.

Deutsche Truppen bei der "Durchkämmungsaktion Wallenstein" 1944

Deutsche Truppen bei der "Durchkämmungsaktion Wallenstein" 1944

Prinzipiell bin ich der Auffassung, dass man im Kontext der Täterforschung, wenn es um die Ursachen von Kriegsverbrechen geht, als einen maßgebenden Faktor, unter vielen anderen Faktoren, die besondere Mentalität zu berücksichtigen hat, die sich bei Männern im Kriege ausformt.

Die direkte und ständige Gegenwart des Todes scheint, so mein Eindruck, bei Militärangehörigen allmählich zu moralischer Gleichgültigkeit, ja zu einer moralischen Verwüstung im Menschenbild als solchem zu führen. Anders gewendet, als Folge der permanent erlebten Begrenztheit der eigenen Existenz nimmt die Achtung vor dem Leben ganz generell, aber insbesondere der Respekt gegenüber dem Leben des anderen kontinuierlich ab. Bei alldem handelt es sich freilich um kein spezifisch deutsches, sondern um ein menschheitliches Phänomen. Deshalb vermag die Bezugnahme auf diese Beziehungsstörung oder Irritation letztlich auch nicht zu erklären, wie und warum der Zweite Weltkrieg im Hinblick auf die deutsche Kriegsführung zum präzedenzlosen Verbrechen geworden ist.
Als deutsche Besonderheit, die wesentlich zur Ermöglichung der auf dem italienischen Kriegsschauplatz und anderswo verübten Kriegsverbrechen beigetragen haben dürfte, wäre eine bis ins 19. Jahrhundert zu verfolgende Relativierungstendenz gegenüber dem internationalen Recht zu benennen. Diese fand zum Beispiel Ausdruck in der verbreiteten theoretischen Abwertung des Völkerrechts oder in der Bekämpfung humanitären Denkens im Offizierkorps. Im Nationalsozialismus erreichte all das einen Höhepunkt. So behauptete etwa Werner Best, promovierter Jurist und SS-Obergruppenführer, im August 1939, dass das Völkerrecht – im völkischen Verständnis gar kein Recht darstelle. Seine Begründung: „Jedes Volk hat nur den Zweck der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung und kennt nur Maßstäbe des Handelns, die auf diesen Zweck ausgerichtet sind.“
Und was das humanitäre Denken anbetraf, so durfte es gemäß der Auffassung von Hitler bei der Bestimmung der Kampfformen keine Rolle spielen. Hier liegt der Ursprung der verbrecherischen Befehle. Sobald es um die Machterhaltung oder Machtsteigerung des Reichs ging, war der Einsatz sämtlicher Mittel nicht nur gestattet, sondern verpflichtend.
Eine wichtige Rolle spielten zudem die Dominanz so genannter Kriegsnotwendigkeiten gegenüber dem jus in bello (Kriegsvölkerrecht) und der willkürliche Rückgriff auf beliebig definierbare Kriegszwecke. Ließ sich doch im Verständnis deutscher Militärs mit solchen Kriterien jeder Terror im Rahmen der Besatzungspolitik rechtfertigen. Recht war, was dem deutschen Volk beziehungsweise dem Reich nutzte. Oder mit den Worten Hitlers, das „Recht“ lag im Siege. Jene nationalsozialistische Maxime, gemäß der Macht Gewaltanwendung rechtfertigte, wurde vom Militär anerkannt und gewöhnlich handelte seine Führung danach, nicht nur in Italien.

In Bezug auf das Ermöglichen von Kriegsverbrechen ist auch das Idealbild des politischen Soldaten anzusprechen, das keineswegs allein für die SS oder Waffen-SS verbindlich war. Vielmehr verstand man darunter einen Wehrmachtangehörigen, der sich mit der NS-Ideologie und den politischen Zielen des Regimes identifizierte. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Hitler Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine bereits im Mai 1936 zur intensiven „Pflege des Rassegedankens“ als Kernpunkt der „nationalsozialistischen Staatsauffassung“ verpflichtete. So gesehen überrascht es nicht, dass hohe Offiziere in Italien Ende 1943, um einen qualifizierten Personalersatz zu garantieren, nicht nur die „drillmäßige Ausbildung im Ersatzheer“ forderten, sondern zugleich die „regelmäßige politische Erziehung“ der jungen Soldaten „durch auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stehende Offiziere“ verlangten. Niemand musste der Front den „politischen Soldaten“ aufdrängen, sie wollte diesen von sich aus.

Außerdem ist es eine Tatsache, dass das im militärischen Leben zentrale Prinzip von Befehl und Gehorsam dazu angetan ist, beim einzelnen Soldaten das Bewusstsein dafür zu verdunkeln, dass er selbst bei befohlenen politischen und militärischen Handlungen eine persönliche Restverantwortung trägt.
Zu berücksichtigen wären zudem alle diejenigen Faktoren, die aus der militärischen Lage oder der individuellen psychologischen Situation resultierten. Nicht zu vergessen ist ferner der Einfluss der Propaganda, die zum Beispiel nach Italiens Kriegsaustritt ein ganzes Volk zu Verrätern stempelte.
Mit der Propaganda gingen Befehle einher, welche die Soldaten mit Hassgefühlen indoktrinierten, um sämtliche Hemmungen von Moral und Gewissen auszuräumen. Als exemplarisch erscheint mir hierfür eine gemeinsame Anordnung der Generalfeldmarschälle Rommel und Kesselring. In ihr bezeichneten die beiden Oberbefehlshaber (am 23. September 1943) die regulären italienischen Soldaten, die auf alliierter Seite kämpften, als „Gesindel“, das „jedes Anrecht auf Schonung verloren“ habe. Da der Erlass im truppendienstlichen Unterricht behandelt werden musste, dürfte er den meisten damals in Italien eingesetzten Wehrmachtangehörigen vertraut gewesen sein.
In Befehlen dieser Art kam eine weit verbreitete Geringschätzung des italienischen Menschen zum Ausdruck. Ein Kompaniechef der Division „Brandenburg“, der in Albanien befehlsgemäß 52 an Malaria erkrankte, unschuldige Offiziere eigenhändig durch Genickschuss tötete, kommentierte seine Untat lapidar: „Das sind doch nur Italiener.“

Und General Westphal, Kesselrings Chef des Stabes, wies im April 1944 den Oberst Berlin vom Armeeoberkommando 10 an, er solle alle Italiener, die verbotenerweise in die von der Zivilbevölkerung geräumten Zonen zurückkehrten, „umlegen“ lassen. Auf die Frage, ob man das so einfach machen könne, beschied er den Obristen: „Man muß nicht soviel darüber sprechen.“
Dermaßen menschenverachtende Äußerungen und Anordnungen entstammten einem alltäglichen Rassismus, der seit Dezember 1940 auf der höchsten nationalsozialistischen Führungsebene – aber ebenso auf den nachgeordneten Ebenen – um sich griff und jedwede Solidarität erstickte.
Mussolini erkannte das hin und wieder.  Beispielsweise stellte er schon Anfang Juni 1941 fest, dass die Deutschen die Italiener als „Sklavenvolk“ und sich selbst als „Herrenvolk“ betrachteten. Doch zog er daraus keine Konsequenzen.

Wie recht der „Duce“ im übrigen hatte, zeigte sich im Juli desselben Jahres, als das Rassenpolitische Amt der NSDAP erstmals ganz offiziell ein deutsch-italienisches Heiratsverbot vorschlug, weil Ehen zwischen Deutschen und Italienern – wie es später hieß – die „Reinerhaltung [des] deutschen Blutes“ gefährdeten.
Gewiss, jener alltägliche Rassismus bezweckte nicht den Genozid, den Völkermord, sondern die nationale Deklassierung. Nichtsdestoweniger kostete er, da durch ihn die Hemmschwelle gegenüber der Tötung von Italienern erschreckend tief abgesenkt wurde, Tausende das Leben.
Meines Erachtens bieten der alltägliche antiitalienische Rassismus und der blinde Gehorsam, mit dem sich die Täter jeder ethisch-moralischen Verantwortung zu entheben versuchten, die überzeugendste Erklärung für die Ursachen der an Italienern verübten Gräueltaten.
Die Opfer der Verbrechen sind bei uns vergessen, wir haben die Erinnerung an sie bislang erfolgreich verdrängt. Für mich ist das ein unwürdiger Zustand, der endlich beseitigt werden sollte. Dazu erscheint es mir notwendig, dass wir, ohne Beeinträchtigung der nach wie vor unverzichtbaren Auseinandersetzung mit dem singulären Verbrechen der Ermordung der europäischen Juden und dem Vernichtungskrieg im Osten, die Problemstellung erweitern und uns um schonungslose Antworten auf die Frage bemühen, warum und wie es dazu kam, dass nicht nur die Achtung vor jüdischem, sondern der Respekt vor nichtdeutschem Leben ganz allgemein verloren ging.

Gerhard Schreiber