Die Kinder der Villa Emma

Eine längst vergessene Geschichte

Villa Emma    Giennea Sighinolfi

Links: Die Villa Emma im Oktober 2004 (Vergrößern: auf die Bilder klicken)
Rechts: Führung durch die Ausstellung "Die Kinder der Villa Emma" in der Fondazione Villa Emma in Nonantola in deutscher Sprache von Giennea Sighinolfi

73 jüdische Kinder, teils aus Deutschland und Österreich, teils aus Kroatien konnten durch jüdische Hilfsorganisationen, den Einsatz Einzelner sowie die Bevölkerung des italienischen Ortes Nonantola gerettet werden. Eine Geschichte, die lange Zeit in Vergessenheit geraten war.

Recha Freier lebte seit 1926 in Berlin, wo sie bereits zwei Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erkannte, dass es für Juden keine Zukunft in Deutschland geben würde. Sie begann das zu organisieren, was die Jugend-Alija werden sollte. Alija bedeutet auf Hebräisch Einwanderung und bezeichnet die „illegale“ Einwanderung nach Palästina/Israel während der britischen Mandatszeit.

Als nach dem Novemberpogrom von 1938 an die 30.000 jüdische Männer in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen interniert wurden, besuchte sie zurückgebliebene Familien, trieb Geld für die Unterstützung bei jüdischen Organisationen auf und bereitete die illegale Auswanderung vor. Als Recha Freier im Juli 1940 selbst flüchten musste, überquerte sie mit Hilfe von Schmugglern die Grenze nach Jugoslawien. In Zagreb konnte sie jüdische Hilfsorganisationen von ihrem Plan überzeugen, möglichst viele Kinder aus Deutschland nach Jugoslawien zu holen, um ihnen von dort die Weiterreise nach Palästina/Israel zu ermöglichen. Recha Freier vertraute vor ihrer eigenen Ausreise die noch in Zagreb befindlichen Mädchen und Jungen drei jungen Zionisten an. Einer von ihnen war Josef Indig, selbst erst 20 Jahre jung.

Flucht in die italienische Besatzungszone

Nach der Besetzung durch deutsche und italienische Truppen im April 1941 wurde Jugoslawien aufgeteilt. Zagreb und Kroatien fielen unter deutsche Besatzung, die Lage war damit für die Gruppe lebensbedrohlich geworden. Dies verdeutlicht der Fall einer Flüchtlingsgruppe, die in der Ortschaft Kladovo, südöstlich von Belgrad, gestrandet war. Die Deutschen entdeckten sie im Herbst 1941 und ermordeten sie auf der Stelle. Indig gelang es, für 43 aus Deutschland und Österreich geflüchtete Mädchen und Jungen sowie deren BegleiterInnen eine Einreisegenehmigung der italienischen Behörden in den von Italien annektierten Teil Sloweniens zu bekommen. In Lesno brdo in der Nähe von Ljubljana fand die Gruppe in einem Jagdschloss Unterschlupf. Die Enttäuschung der Jugendlichen bei der Ankunft war aber groß, denn was sich wie ein Märchen anhörte entpuppte sich als altes, völlig leeres Gebäude ohne Strom und fließend Wasser.

Der Aufenthalt in Lesno brdo dauerte etwas über ein Jahr, von Juli 1941 bis Juli 1942, und wurde überwiegend von der italienischen Hilfsorganisation Delasem finanziert. Die zur Verfügung gestellten Mittel waren aber sehr knapp und oft gab es nicht genügend zu essen. Indig und die am Ende neun BetreuerInnen führten einen Tagesplan ein, und die Jugendlichen bekamen seit langem wieder Schulunterricht, der sie vor allem auf das Leben in Palästina/Israel vorbereiten sollte.

Die Villa Emma in Nonantola

Als im Frühjahr 1942 der Partisanenkampf der Slowenen gegen die italienische Besatzungsmacht begann, war die Situation der Gruppe erneut gefährdet. Mit den italienischen Behörden musste man sich gut stellen, da sie den Aufenthalt genehmigten, aber eigentlich sympathisierten alle mit den Partisanen. In dieser Situation beschloss die Delasem, die Gruppe nach Italien zu holen. Nach der Genehmigung durch das italienische Innenministerium wurde dazu am Rande von Nonantola, wenige Kilometer nördlich von Modena, die Villa Emma gemietet, die ihren Namen der Ehefrau des Erbauers verdankte. Über Triest, Venedig und Bologna kam die Gruppe am 17. Juli 1942 am Bahnhof von Nonantola an, wo sie von einer neugierigen Menge erwartet wurde. Viel zu früh, wie sich zeigte, denn auch hier stand das Haus vollkommen leer und die erste Nacht schliefen alle auf dem Boden. Die Delasem hatte mit einer späteren Ankunft gerechnet und noch keine Vorbereitungen getroffen. Wieder vergingen mehrere Wochen, in denen die Villa Emma von den Jugendlichen hergerichtet wurde, bevor der strenge Tagesplan mit morgendlicher Hausarbeit und nachmittäglichem Schulunterricht beginnen konnte.

Anfangs blieb die Gruppe unter sich, denn es gab eine Ausgangsbeschränkung – die Delasem befürchtete auf Grund der 1938 in Italien erlassenen Rassengesetze bei engerem Kontakt mit den BewohnerInnen den Unmut der Behörden. Diese war aber nicht lange aufrecht zu erhalten. In Nonantola fehlten Arbeitskräfte und so arbeiteten die Jugendlichen bald überall mit, wodurch viele Freundschaften entstanden. Da die Behörden keinen Einspruch erhoben, waren die Mädchen und Jungen der Villa Emma bald ständig und überall im Dorf zu sehen. Dies ist sicher mit ein Grund, warum viele der ehemaligen Kinder von Nonantola heute erzählen, dass sie hier einen ganz normalen Alltag und ein glückliches Leben geführt hätten.

Im April 1943 kamen 33 Kinder aus Split in die Villa Emma. Es waren überwiegend Waisen, deren Eltern in deutschen und kroatischen, vom nationalistischen und rassistischen Ustascha-Regime geführten Lagern ermordet worden waren. Nun lebten 73 Kinder und 13 BetreuerInnen in der Villa Emma. Dafür war das Haus viel zu klein, es gab kaum Platz für alle. Aber auch die Sprachbarriere – die einen sprachen deutsch, die anderen kroatisch, untereinander konnte man sich nur auf italienisch unterhalten – und der Umstand, dass die eine Gruppe schon so lange zusammen lebte, sorgten für Probleme.

Alle wurden innerhalb von 24 Stunden versteckt

Als am 25. Juli 1943 Mussolini abgesetzt wurde, änderte sich in der Villa Emma erst einmal nichts. Doch die Einrichtung eines deutschen Militärkrankenhauses in Nonantola und immer mehr deutsche Soldaten in den Straßen ließen nichts Gutes ahnen. Als am Abend des 8. September der Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten verkündet wurde, war allen schnell klar, dass damit erneut ihr Leben bedroht war. Josef Indig gelang es gemeinsam mit dem Arzt Giuseppe Moreali, einem Antifaschisten und dem Priester Don Arrigo Beccari 30 der jüngeren Kinder in den Seminarräumen der Abteikirche unterzubringen. Die Räume standen wegen der Sommerferien leer. Die anderen Kinder und die meisten BetreuerInnen wurden von ihnen innerhalb von nur 24 Stunden auf Familien in Nonantola verteilt. Die BewohnerInnen Nonantolas stimmten spontan zu, obwohl ihnen bei der Entdeckung die Todesstrafe gedrohte hätte. Die Mädchen und Jungen blieben ungefähr fünf Wochen versteckt. In dieser Zeit suchten Josef Indig und Goffredo Pacifici, ein Betreuer, nach einer Fluchtmöglichkeit. Zusammen machten sich die beiden auf den Weg an die Schweizer Grenze, wo sie in Ponte Tresa Kontakt mit Schmugglern aufnahmen. Beiden wurden von den Behörden in Nonantola Dokumente ausgestellt, in denen der seit den Rassengesetzen von 1938 auch in Italien verpflichtende Zusatz ebreo, Jude, fehlte. Auch die Mädchen und Jungen erhielten solche Dokumente, was eine Reise um vieles erleichterte. Auch Recha Freier, die immer Kontakt zu der Gruppe hielt, half bei der Flucht in die Schweiz mit. Sie kontaktierte Schweizer Hilfsorganisationen, die die Unterstützung der Kinder in der Schweiz zusicherten und bei der Schweizer Regierung intervenierten. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen worden waren, überquerten die Kinder in drei Gruppen mit Hilfe der Schmuggler bei niedrigem Wasserstand den Grenzfluss Tresa.

Neun der älteren Mädchen und Jungen versuchten die Alliierten im Süden zu erreichen. Dreien von ihnen gelang es, die Frontlinie zu überschreiten. Max Federmann dagegen blieb bei einer Gruppe von Partisanen in der Region Marken und kämpfte an ihrer Seite bis zur Befreiung. Vier Jungen und das Mädchen kamen nur bis Rom. Von dort kehrten sie im November nach Modena zurück um sich mit Goffredo Pacifici zu treffen. Er war nach der erfolgreichen Flucht der anderen wieder nach Italien zurückgekehrt, um weiteren Menschen bei der Flucht in die Schweiz zu helfen. So führte er die fünf mit einer Gruppe Juden über die Schweizer Grenze, wo ihnen Aufenthalt gewährt wurde. Pacifici bezahlte sein Engagement mit dem Tod. Auf einem der vielen, von ihm organisierten Flüchtlingstransporte in die Schweiz wurde er im Zug verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Bis auf Salomon Papo aus Sarajevo wurden alle Kinder aus der Villa Emma gerettet. Er war nach einem kurzen Aufenthalt in der Villa in eine Lungenheilanstalt im Modeneser Apennin gebracht worden. Sein Name taucht das letzte Mal im März ´44 auf einer Transportliste vom Lager Fossoli nach Auschwitz auf.

Die geflüchteten Mädchen und Jungen blieben bis zum Ende des Krieges in der Schweiz. Am 29. Mai 1945 schloss sich der Großteil mit Indig der ersten Fahrt nach Palästina/Israel an.

Für Recha Freier, „die unzählige Kinder vor der Vernichtung durch das Nazi-Regime nach Palästina rettete“, wurde in ihrem Todesjahr 1984 im Jüdischen Gemeindehaus, Fasanenstraße 79/80 in Berlin eine Gedenktafel enthüllt.

Dieter Binz

Professor Dr. Klaus Voigt hat in 3-jähriger Arbeit diese Informationen zusammengetragen und in dem Buch „Villa Emma. Jüdische Kinder auf der Flucht 1940-1945“ (siehe Literaturliste) veröffentlicht. Mit den bei seinen Recherchen wieder entdeckten Dokumenten und dem Bildmaterial hat er eine Fotoausstellung erstellt, die seit 2002 in vielen Städten zu sehen war. Als permanente Ausstellung ist sie inzwischen in Nonantola, und zwar in einem der Häuser, die den Kindern nach dem 8. September Unterschlupf boten, zu sehen. Geführte Besichtigungen, auch auf deutsch, können dort unter der Telefonnummer 0039 333 8312306 gebucht werden.

Fernsehbeitrag „Die Kinder der Villa Emma – Eine wunderbare Rettung im Krieg“