Annita Malavasi: „Ich muss weiter kämpfen!“

Annita Malavasi bei einem Zeitzeuginnengespräch 2006

Für viele Männer und Frauen der Resistenza hörte der Kampf nicht mit dem 25. April1945 auf. Frauen wie Annita „Laila“ Malavasi  wollten nicht in das traditionelle Frauenleben ­zurückkehren. Sie engagierten sich sozial und politisch in der ­italienischen Nachkriegsgesellschaft.

Laila trifft Monate nach ihrem ­Beschluss in die Berge zu gehen eine weitere wichtige Entscheidung:
„Ich hatte mit der Vergangenheit gebrochen, ich hatte auch keine Möglichkeit mehr einen Ehepartner zu finden, weil dort unten herrschte noch die gleiche Mentalität wie damals, als ich in die Berge bin. Deshalb spürte ich auch eine gewisse Traurigkeit, weil ich eine Welt zurück ließ, in der ich einen wichtigen Moment meines Lebens gelebt hatte. Ich hatte Freunde, die alles für mich gaben und ich für sie. Freunde, die jetzt tot sind, die Ideale hatten und auf eine bessere Welt hofften.“
Sie entscheidet sich gegen eine Familie zugunsten eines Arbeitslebens und des politischen Kampfes. Zuerst organisiert sie die Frauen in ihrem Viertel und auf Arbeit. Nach sechs Monaten wird sie von der kommunistischen Partei zur Vorsitzenden der Frauensektion in Reggio Emilia ernannt.
Für sie ist es vor allem wichtig, dass Frauen mehr Bildung bekommen. Sie stellt fest, dass in ihrer Jugend niemand Wert auf eine gute Bildung für sie gelegt hatte:
„Ich erinnere mich gut an den ersten Artikel vom Chef der kommunistischen Partei über Frauen. Was war das für eine Mühe, ihn zu verstehen. Ich habe ihn gelesen, ich habe ihn auswendig gelernt, aber dann gemerkt, dass das auch nichts nützt und so habe ich gelernt, mit den anderen zu ­diskutieren.“

Im Januar 1946 bekommen die italienischen Frauen das Wahlrecht. Es geht um die Entscheidung Monarchie oder Demokratie. Laila und andere Aktivistinnen verstärken ihre Anstrengungen, um Frauen über die Wahlen aufzuklären und zur Wahl zu animieren, um so ein Gegengewicht zu Kirche und konservativen Kräften zu setzen.

Später wechselt sie zur Gewerkschaft und wird Vorsitzende der Frauenkommission. „Es gab in Italien eine Frauenfrage, die nicht nur die kulturelle und soziale Diskriminierung der Frau beinhaltete, sondern auch die Diskriminierung in Arbeitsfragen. Der Lohn für Frauen lag 40% unter dem der Männer.“ Aber es ging nicht nur um Lohn, sondern auch um Kinderbetreuung, Renten, Inhalte der Erziehung.

Da habe ich kapiert, dass scharf geschossen wird

Der einschneidendste Moment ihres Kampfes ist der 7. Juli 1960, an dem es in Reggio Emilia zu Schüssen auf demonstrierende ArbeiterInnen kommt – 5 Menschen werden ermordet. „Diese Sache hat mich so getroffen, dass ich noch Jahre später die Erinnerung an den Platz, an die Toten verdrängte. Und lange habe ich nicht darüber sprechen können.“
Anlass der Demonstration war die Regierungsbildung der konservativen Democrazia Cristiana mit Duldung durch den faschistischen MSI (die Partei Mussolinis, nach dem Krieg nicht verboten). 15 Jahre nach der Befreiung spielten die Faschisten öffentlich wieder eine tragende Rolle. Landesweit war es zu Demonstrationen zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften gekommen, gegen die die Polizei mit Härte vorging.

Obwohl mit vielen TeilnehmerInnen gerechnet wurde, wird von der Behörde die Demonstration auf dem Hauptplatz von Reggio Emilia verweigert und nur ein Saal am Rande des Platzes zugestanden. Die Menschenmenge wächst aber auf 20.000 an, die auf dem Platz vor dem Saal ausharren. Bevor die Veranstaltung beginnt, gibt der Einsatzleiter der Polizei den Befehl, anzugreifen. Mannschaftswagen fahren in die Menge, Rauchbomben werden geworfen, Wasserwerfer eingesetzt. Laila und die Organisatoren hatten gerade versucht, eine Öffnung des zugestandenen Saales und eine Übertragung auf den Platz zu erreichen, als sie Schüsse von draußen hören. Laila läuft auf den Platz: „Ich versuchte vorwärts zu kommen, aber die Menschenmassen kamen mir entgegen gestürmt und da habe ich kapiert, dass scharf geschossen wird. Vor mir tauchte ein Mann auf, der einen anderen am Jackenaufschlag mit sich schleppte. Er war blass, richtig weiß im Gesicht. Als ich ihn genauer anschaute, erkannte ich Emilio, einen wirklich guten Freund von mir, mit dem ich in den Bergen war.“
Als sich die Situation endlich beruhigt, ist es Lailas Aufgabe, den Angehörigen der Toten die Nachricht zu überbringen. Es folgen Mahnwachen, Trauermärsche und die Beerdigungen:
„Nach drei Tagen ging ich nach Hause, drei Tage, die die schlimmsten in meinem Leben waren, aber ich musste durchhalten – wegen der Verantwortung, die meine Arbeit mit sich brachte. Ich kam nach Haus und begann zu weinen. Mein Vater sagte: ‚Als du deine Wahl getroffen hattest, wusstest du, was der Preis sein würde, von dir wird Stärke erwartet, und ich weiß, dass du sie hast.‘“

Bis zu ihrer Pensionierung engagierte sich Laila als Gewerkschaftsfunktionärin. Auch als Mitglied der ANPI, der Vereinigung der italienischen Partisanen, kämpfte sie für die Errungenschaften des Antifaschismus und dafür, die Erinnerung an den Befreiungskampf wach zu halten. Als Zeitzeugin erzählte sie ungezählte Male jungen Menschen von ihrem Leben und ihren Idealen.

Heike Herzog